Wohltemperierte Worte und Klänge

Sieben Jahre ging Carsten Henn mit seiner Idee schwanger, bis er im November 2020 endlich seinen Roman »Der Buchspazierer« veröffentlichte. Der wurde prompt zum Renner und belegte in der Jahresbestenliste 2021 den sechsten Platz.
Aus der Weihnachts- wurde eine Osterlesung. Ursprünglich vom Literarischen Zentrum Gießen für Mitte Dezember geplant, fand nun der Wohlfühlleseabend mit Carsten Henn am Dienstag statt - und zwar an einem ungewöhnlichen Ort. Locker füllte der Kölner Autor die Bänke in der evangelischen Kirchberg-Kirche von Lollar-Ruttershausen, begleitet von der Harfenistin Cordula Poos, die mit drei perlenden Intermezzi für stimmungsvolle Atmosphäre sorgte.
Der eigene Vater dient als Vorlage
Es sei ein sehr persönliches Buch, verrät Henn. Denn für seine beiden Hauptpersonen gibt es reale Vorbilder. »Das Haus meines Vaters ist voller Bücher«, erzählt der 48-Jährige. Dieser würde ungern in den Urlaub fahren. »Ich verreise mit meinen Büchern«, habe sein Vater stets gesagt. Er dient als Vorlage für den 72-jährigen Buchhändler Carl Kollhoff, der die von ihm ausgewählte Lektüre seinen Stammkunden direkt nach Hause bringt. Ein Service, den seine neue Chefin am liebsten abschaffen würde.
Eines Tages stößt auf der abendlichen Auslieferungsrunde urplötzlich die vorwitzige, neunjährige Schascha zu dem verschrobenen Einzelgänger. Diesen Part hat Henn seiner Tochter gewidmet, die heute 15 Jahre alt ist. »Als ich sie einmal bei einer Lesung auf Pellworm persönlich vorstellte, war ihr das schrecklich peinlich«, schmunzelt der Papa.
Kollhoff kennt die Vorlieben seiner Leserschaft, der er Namen aus berühmten Romanen verliehen hat. So ist der schwerreiche, aber einsame Christian von Hohenesch, den er jeden Tag mit philosophischem Stoff versorgt, für Kollhoff als Mister Fitzwilliam Darcy direkt dem Jane-Austen-Roman »Stolz und Vorurteil« entstiegen. Klar, dass die kecke Schascha nun für frischen Wind im abgezirkelten Leben des Rentners sorgt, den sie kurzerhand den Buchspazierer nennt. Neugierig inspiziert sie die Wohnungen der scheuen Kunden, stellt ihnen allerlei schlaue Fragen, macht sich Notizen in ihrem Poesiealbum, aus denen sie dann folgenschwere Schlüsse zieht.
»Für die Parkbank, auf der sich die beiden dann ernsthaft unterhalten und die auch auf dem Cover zu sehen ist, gibt es ebenfalls ein Motiv auf dem Melaten-Friedhof in Köln«, gesteht Carsten Henn. Ansonsten aber sei die Stadt, in der Kollhoff die Menschen beglückt, frei erfunden. Schließlich soll der Buchspazierer durch jede Stadt gehen, wünscht sich der Verfasser, der sich bislang als Wein- und Restaurantkritiker sowie Autor kulinarischer Krimis einen Namen gemacht hat. Dass aus seiner romantischen Idee tatsächlich Wirklichkeit wurde, konnte er allerdings beim Schreiben nicht ahnen. Während des Lockdowns lernten die treuen Leser den Service ihres kleinen Buchhändlers vor Ort zu schätzen, der mit dem Fahrrad die Lektüre bis zur Haustür lieferte.
Carl sei ihm sehr ans Herz gewachsen, betont Henn, der mit angenehm tiefem Timbre und geschulter Moderatorenstimme gut eine Stunde liest. So sehr, dass es im jüngsten, druckfrischen Roman »Der Geschichtenbäcker« ein kurzes Wiedersehen mit dem Buchspazierer gibt.