»Wir sind die Kriminellen?«

Bei einer Mahnwache in der Gießener Innenstadt haben sich Mitglieder von »Fridays For Future« mit der »Letzten Generation« solidarisiert. Sie kritisieren die bundesweiten Razzien und sprechen von einer Kriminalisierung der Klimabewegung. Juristisch ist die Einordnung der Gruppe als kriminelle Vereinigung umstritten.
Mit Kreide schreiben sie sich ihren Ärger von der Seele: »Wir sind die Kriminellen?« steht vor dem Kugelbrunnen auf den Asphalt geschrieben. Oder: »Klimaschutz ist kein Verbrechen«. Rund 80 Leute unterschiedlichen Alters waren am Donnerstagnachmittag dem Aufruf von »Fridays For Future« (FFF) Gießen gefolgt. Sie wollen sich am Kugelbrunnen mit den Klimaprotestlern der »Letzten Generation« solidarisieren, nachdem es am Mittwoch zu Razzien gegen Mitglieder der Gruppe gekommen ist. Der Sprecher von FFF Gießen, Finn Emmerich, sagt: »Wir wollen zeigen, dass die »Letzte Generation« nicht allein ist. Wir alle sind besorgt über das extreme Vorgehen der Ermittlungsbehörden.«
Vorwurf der Einschüchterung
Am Mittwoch hatten Ermittler in Bayern und sechs anderen Bundesländern 15 Wohnungen von Mitgliedern und Unterstützern der »Letzten Generation« durchsucht, Vermögen eingefroren und Konten beschlagnahmt. Zudem schalteten sie die Homepage der Gruppe ab. Die Münchner Generalstaatsanwaltschaft ermittelt gegen sieben Personen zwischen 22 und 38 Jahren. Der Vorwurf: Bildung und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung.
Emmerich von FFF Gießen hält dieses Vorgehen für einen »direkten Versuch der Einschüchterung der Klimabewegung«. Der Vorwurf, bei der »Letzten Generation« handele es sich um eine kriminelle Vereinigung, sei angesichts der gewaltlosen Aktionsformen der Gruppe nicht verhältnismäßig. Vielmehr wirke es so, als ließen sich die Ermittlungsbehörden »für den Wahlkampf der CSU« instrumentalisieren. Zuletzt hatte der nicht immer glücklich in seinem Amt agierende ehemalige Bundesverkehrsminister der CSU, Alexander Dobrindt, die »Letzte Generation« als »Klima-RAF« bezeichnet. Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat das Lamentieren über grüne Politik als Wahlkampfmittel für sich entdeckt. Emmerich betont: »Der Staat sollte seine Anstrengungen lieber in die Umsetzung der Klimaziele stecken als in Repression.«
In der Tat ist es umstritten, ob die »Letzte Generation« als kriminelle Vereinigung eingestuft werden kann - selbst unter den Strafverfolgungsbehörden. Im Dezember war noch die Staatsanwaltschaft Neuruppin in Brandenburg die einzige auf weiter Flur, die in Bezug auf die »Letzte Generation« von einer kriminellen Vereinigung sprach. Die Staatsanwaltschaften in Berlin oder Stuttgart sahen diesbezüglich keine Anhaltspunkte.
Bei einer kriminellen Vereinigung denken viele an Mafiosi, Neonazi-Kameradschaften oder Clanmitglieder. Wer darunterfällt, ist im Paragrafen 129 des Strafgesetzbuchs geregelt: Dort heißt es: »Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind.« Wer sie unterstützt, kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft werden. Als eine Vereinigung definiert, wird ein auf längere Dauer angelegter Zusammenschluss von zwei und mehr Personen mit festen Rollen und kontinuierlicher Mitgliedschaft, die ein übergeordnetes Interesse verfolgen.
Frank Richtberg ist ein renommierter Jurist in Gießen. Der Anwalt sagt, wenn es einen Anfangsverdacht für eine Durchsuchung gebe, dürfe auch durchsucht werden. Was ihn aber am Fall der »Letzten Generation« störe, sei das Wie. »Da gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit«, betont er. Man müsse nicht mit einem schwer ausgerüsteten Polizeikommando anrollen, wenn klar sei, es gehe um Menschen, die nie eine aktive Gewalttat begangen hätten. Es gebe keinen Grund, so aufzutreten - es sei denn, es sei politisch motiviert.
Grenzbereich für Justiz
Beim Paragrafen 129 müsse gefragt werden, ob die Straftatbestände, die die Mitglieder der »Letzten Generation« erfüllt hätten, die dafür nötige Erheblichkeit aufweisen. Denn es geht um Taten, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind. Zutreffen würde der Paragraf bei der Frage der Mitgliederzahl, der Kontinuität und des übergeordneten Interesses - »dabei spielt es keine Rolle, ob es ein gutes oder schlechtes Interesse ist«, sagt Richtberg. Er betont: »Wir bewegen uns in einem Grenzbereich, und es werden sicherlich noch einige juristische Arbeiten in dieser Frage betrieben werden.« Der Staat müsse die Sache aber aufklären.
Dies fordern auch die Redner bei der rund eineinhalbstündigen Veranstaltung am Kugelbrunnen. Irene von Drigalski von der »Letzten Generation« in Marburg sagt: »Wir glauben an den Rechtsstaat.« Aber sie glaubten auch, dass dieser durch Aktionen wie die Razzien Schaden nehme. Philipp Wächter von »Students For Future« nennt den Polizeieinsatz »übergriffig und extrem«. Eine kriminelle Vereinigung verbinde man mit Reichsbürgern oder Verbrecherbanden - und nicht mit Klimaaktivisten.
Grünen-Urgestein Gerhard Keller betont: »Ich finde, es gibt bessere Aktionen des zivilen Ungehorsams als die Klebeaktion.« Er fühle sich aber an 1986 erinnert, als »die Hetzer-Zeitung, die ›Bild‹-Zeitung«, dazu beigetragen habe, dass der Kopf der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, niedergeschossen wurde. Manche Politiker, sagten sie, seien gerade dabei, dieses Klima wieder zu erzeugen.