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»Wir haben eine Menge geschafft«

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Von: Burkhard Möller

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Prof. Ingrid Miethe war die Festrednerin bei der städtischen Einheitsfeier. © Harald Friedrich

33 Jahre nach dem Fall der Mauer sieht sich Deutschland mit einer neuen »Zeitenwende« konfrontiert, die Spaltungstendenzen im Land zu verstärken scheint. Die aus der DDR stammende Erziehungswissenschaftlerin Prof. Ingrid Miethe warnte bei der Einheitsfeier der Stadt davor. die »Abwertungserfahrungen« von Ostdeutschen als »Ossijammern« abzutun.

Die deutsche Gesellschaft wird wohl noch über mindestens sieben Brücken gehen müssen, die die DDR-Band Karat und später der West-Rocker Peter Maffay besangen, bis die Teilung des Landes und Probleme im Vereinigungsprozess nur noch eine ferne Vergangenheit sein werden. Bis die Deutschen die sieben Brücken, am Montag bei der Feierstunde des Magistrats zum Tag der Deutschen Einheit wunderbar intoniert vom Blechbläserquartett des Philharmonischen Orchesters Gießen, hinter sich gelassen haben werden, wird es nach Einschätzung von Prof. Ingrid Miethe noch Jahrzehnte dauern. »40 Jahren DDR stehen bis jetzt ja erst 30 Jahren wiedervereinigtes Deutschland gegenüber«, sagte die in Plauen im sächsischen Vogtland geborene Sozialwissenschaftlerin, die an der Justus-Liebig-Universität Gießen Erziehungswissenschaften lehrt und sich vor und nach der Wende in der DDR-Bürgerrechtsbewegung engagierte. In ihrem augenöffnenden Festvortrag zum Thema »Deutsche Vereinigung als interkultureller Prozess« zog Miethe einerseits eine positive Bilanz des bisherigen Vereinigungsprozesses (»ohne Zweifel eine Erfolgsgeschichte«), andererseits mahnte sie an, die »Abwertungserfahrungen« der Ostdeutschen nicht als gefühlte Benachteiligung abzutun. Fazit und Ausblick, die unter der Überschrift »Wiederherstellung der Feierlaune« stand, fielen positiv aus: »Wir werden weiter zusammenwachsen, und wir haben auch schon eine Menge geschafft.«

Nach ihrer Einführung, die unter dem Motto »Dank und Jubel« stand, legte Miethe unter der Überschrift »Verderben der Feierlaune« beweiskräftig dar, dass es handfeste Gründe für das Klagen der Ostdeutschen über Benachteiligungen gibt. Dies betreffe ökonomische Faktoren wie Vermögensbestand und Gehaltsniveau oder die Verteilung von »Elitepositionen«. An den Spitzen der Gesellschaft seien Ostdeutsche dramatisch unterrepräsentiert, es fehle folgerichtig an »positiven ostdeutschen Rollenbildern«. Der Aufstieg von Angela Merkel und Joachim Gauck an die politische Spitze des Landes stünden dazu nur in der »öffentlichen Wahrnehmung« in Kontrast.

Es gebe also eine Menge an »Abwertungserfahrung«, die die Ostdeutschen mit Menschen mit Migrationshintergrund verbinde. Das Gefühl, in der Mehrheitsgesellschaft nie richtig anzukommen, sei in beiden Gruppen verbreitet. Auch Migranten registriertem, dass die Luft ganz oben für die eigenen Leute dünn werde. Gleichzeitig machte Miethe aber deutlich, dass Rassismus gravierender sei als das, was Ostdeutsche erlebten. Abwertungserfahrung nicht als »Ossijammern« abzutun, sei nicht zuletzt geboten, weil sich politisch extreme »Bauernfänger« diese Emotionen zunutze machten, warnte Miethe.

»Lernort« für ganz Deutschland

Die Begrüßung bei der gut besuchten Veranstaltung im Hermann-Levi-Saal des Rathauses oblag Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher, der dies nutzte, um ein Projekt in den Fokus zu rücken, um das es zuletzt still geworden war, Die Rede ist von der Gedenkstätte und dem »Lernort«, den das Land Hessen und die Stadt Gießen im früheren Erstaufnahmelager im Meisenbornweg einrichten wollen. »Wir werden uns als Stadt kräftig einbringen«, kündigte Becher, dessen Eltern aus der DDR geflüchtet waren, an. »Geschichten fürs ganze Land« und vor allem für junge Menschen wolle man an der Lahnstraße erzählen. Gerade für junge Menschen, die selbst oder deren Eltern vor Krieg oder Verfolgung geflohen seien, seien viele der Geschichten »anschlussfähig«. Wie die des Fußballstars Norbert Nachtweih, der im Mittelpunkt der in Gießen von Schülern und Lehrern der Friedrich-Ebert-Schule produzierten Videodoku »An die Wand gespielt« steht.

Am Ende der gut einstündige Feierstunde spielte das Blechbläserquartett das Lied der Deutschen und die Europahymne.

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