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Wie im freien Fall aus einem Flugzeug

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Über die notwendige Energiewende in Deutschland diskutierten bei der IHK unter Leitung von HR-Redakteur Carsten Jens (2. v. l.): Dr. Justus Brans (l.), Prof. Peter Birkner (r.) und Prof. Harald Schwarz. © Guido Mark Tamme

Gießen (ta). Ist die Grundlastfähigkeit in Bezug auf die Energieversorgung gesichert? Um diese Frage ging es am Montagabend bei einer weiteren Podiumsdiskussion zum 150-jährigen Bestehen der IHK Gießen-Friedberg. Die Antwort der drei dazu eingeladenen Experten lautete: Kurzfristig muss sich die deutsche Wirtschaft ebenso wie die Bevölkerung keine Sorgen um ihre Versorgungssicherheit machen.

Aber mittel- und langfristig drohen Engpässe nach dem Ausstieg aus der Kernenergie, dem vorgezogenen Kohleausstieg und ausbleibenden Gaslieferungen, wenn nicht rasch und konsequent umgesteuert wird.

»Das ist wie bei einem Ausstieg aus dem Flugzeug: Wir befinden uns im freien Fall und trösten uns damit, dass bis jetzt alles gut gegangen ist«, lautete die sarkastische Warnung von Prof. Harald Schwarz, der eine optimale Systemintegration als unverzichtbares Ziel bezeichnete und bedauerte, dass nun nachgearbeitet werden müsse, was in den letzten 15 Jahren versäumt wurde.

Die vorausgegangene Bestandsaufnahme mit vielen Grafiken durch den Lehrstuhlinhaber für Energieverteilung und Hochspannungstechnik an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus war harte Kost für Nichtphysiker, also für die allermeisten Zuhörer im IHK-Plenarsaal. Eindruck hinterließ vor allem der immense Puffer-Unterschied bei den Energiearten: Der Jahresverbrauch beim Gas liegt derzeit bei 900 000 Gigawattstunden, für den Speicherkapazitäten von 2 500 000 Gwh zur Verfügung stehen. Der Lagervorrat reicht also für einige Monate. Der Stromverbrauch beläuft sich auf bei 500 000 Gwh, von dem aber nur 40 Gwh gespeichert werden können, also eine Pufferzone von 30 bis 60 Minuten.

Um dennoch die notwendige Netzfrequenz aufrechterhalten zu können, sei das Land darauf angewiesen, sich mit Strom aus Kohle- und Kernkraftwerken aus dem Ausland zu versorgen. so Schwarz. Die politisch gewollte CO2-freie und autarke Stromerzeugung hierzulande allein durch regenerative Quellen (Biomasse, Geothermie sowie Wind und Sonne (trotz deren Effizienzschwankungen) zu erzielen, sei zwar möglich, doch werde die Entwicklung der benötigten Großtechnologien lange dauern. Technisch einfacher möglich wäre dies bei der Kernspaltung.

Um den Klimawandel zu bremsen, sei eine Transformation zu einem multimodalen Energiesystem weg vom CO2-Ausstoß unverzichtbar, betonte ebenfalls Prof. Peter Birkner. Welche Technologien für Großkraftwerke dabei lohnend sind, richte sich nach dem politischen Ordnungsrahmen aus, erläuterte der Geschäftsführer des Kasseler »House of Energy«, in dem Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammengeführt werden. Immerhin könnte der Energiebedarf für Wärme und Verkehr durch eine effiziente Steuerung und Verbrauchseinsparungen um 40 Prozent reduziert werden.

Der Zeitplan für eine optimale und klimafreundliche Energieerzeugung sei sehr ehrgeizig, räumte des Weiteren auch Dr. Justus Brans vom Hessischen Ministerium für Wirtschaft und Energie auf Nachfrage von IHK-Präsident Rainer Schwarz ein. Die Genehmigungsverfahren für neue Anlagen müssten enorm verkürzt werden, wie es gerade beim Flüssiggas-Anleger in Wilhelmshaven vorbildlich geschehen sei. Allerdings könne über Flüssiggas nur zwei Drittel der bisher aus Russland bezogenen Gasmenge ausgeglichen werden, gab Birkner zu bedenken.

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