Wie im Fieber nach Luft ringen

Frauen, die ihren Körper thematisieren. Frauen, die hecheln. Frauen in Ekstase. Im Kleinen Haus des Stadttheaters wird die Tanzsaison eröffnet.
Am Ende ist alles nur noch Schweiß und Hecheln und noch mehr Schweiß. Dann verbeugen sich die vier Tänzerinnen mit hochroten Köpfen erschöpft vor ihrem Publikum. Lang anhaltender Applaus brandet auf und Fußgetrampel vor Verzückung.
Zur Eröffnung der Tanzsaison am Stadttheater rauschte am Freitag im Kleinen Haus die bewegungsintensivste Uraufführung der letzten zehn Jahre über die Bühne. Unter dem sperrigen Titel »My body a stranger that protects me that kills me« (zu Deutsch: Mein Körper ist ein Fremder, der mich schützt, aber auch tötet) zeigt die in Düsseldorf lebende Kubanerin Maura Morales, was sie kann: Power mit Emotion verbinden.
Neben Emma Jane Howley, seit 2019 im Gießener Ensemble, sind mit Rose Marie Lindstrøm und Maja Mirek zwei neue Tänzerinnen zu erleben, als Gast ist Luana Rossetti dabei. Zu Beginn kauert das Quartett ziemlich nackt am Boden.
Die langhaarigen Damen tragen schwarze Hosen nach Art eines Taillenslips, ihre Brüste sind überklebt. Transparente schwarze Hemdchen und lange Hosen kommen hinzu, derer sich die Akteurinnen dieses Konditionsabenteuers später wieder entledigen.
Versteckte Kapitalismuskritik
Morales stellt in ihrer Choreografie Frauen ins Blickfeld. Das macht sie oft. Eine Geschichte jedoch erzählt sie nicht, schwelgt lieber in erklärenden Worten. Die Tänzerinnen ermächtigen sich demnach »in einer rauschhaften Transformation ihrer weiblichen Körper gegen die Objektivierung und Kapitalisierung, spielen mit dem Verschwimmen von körperlichen Grenzen und setzen die Kraft der Gemeinschaft frei, in der das Individuum zum politischen Gewicht wird«. Nun gut.
Im Stück lauert auch Kapitalismuskritik, vortrefflich versteckt. Bestenfalls die kurzzeitig aufgesetzten Folien vor den Gesichtern der Protagonistinnen halten dem Zuschauer den Spiegel vor. So viel zur Theorie. In der Praxis geht nach einem langatmigen Intro die Post ab. Lindstrøm und Rossetti sehen beinahe aus wie Schwestern und haben das Zackig-Kantige drauf, Howley und Mirek geben sich geschmeidiger. Die Pas de deux gehen unter die Haut. An ihren Mähnen ziehen sich die Damen selbst empor. Schweiß perlt. Gesichter glühen. Die Gruppenszenen sind beseelt von drückender Dynamik.
Tatsächlich tanzt Maja Mirek alle und sich selbst an die Wand. Ihr Sixpack strotzt vor Kraft, ihre Zierlichkeit setzt auf Ausdauer. Die kann sie, ebenso wie ihre drei Mitstreiterinnen, gut gebrauchen. Mirek lächelt selbst dann noch, wenn ihre prächtige Präsenz wie im Fieber taumelnd nach Luft ringt.
Der ohnehin schon knappe Bühnenraum wird von Morales und Ausstatter Lukas Noll weiter verkleinert und ist in Schwarz und Weiß gehalten. Weist die Farbgebung auf Gut und Böse hin? Auf Sein oder Schein? Oder doch nur auf Schwarz und Weiß?
Der Fußarbeit ihrer Heldinnen schenkt Morales besondere Aufmerksamkeit. Fetischassoziationen sind nicht weit, wenn man bedenkt, dass die Tänzerinnen trotz ihrer Nacktheit keineswegs erotisch wirken, ihre blanken Füße, die gestreckt, gespreizt, liebkost werden, aber schon.
Ekstase zum Genießen
Das Verhältnis der Tänzerinnen zu ihrem kompletten Körper steht unter Leib-haftiger Spannung. Die gezeigten Grenzerfahrungen und Transformationen haben es in sich.
Der Lebenspartner der Choreografin, Michio Woirgardt, hat die Musik ersonnen. Anfangs ist ein spaciges Rumoren aus dem Subraum der Gefühle zu hören, danach, wenn die Chose Fahrt aufnimmt, wird viel synthetisch getrommelt, das Drei-Akkorde-Muster strapaziert und Rhythmus zelebriert. Dass belanglose Texte eingespielt werden, zuvor aufgesagt von den Tänzerinnen - geschenkt. Kurz vor dem Showdown dürfen die vier am Boden liegend nach Luft schnappen. Dann geht es ins treibende Schlusstableau.
Es lässt sich über diesen Abend sinnieren und über die Intention diskutieren. Man kann die getanzte Ekstase aber auch einfach so genießen. Was zu empfehlen ist. Die nächsten Vorstellungen im Kleinen Haus sind am 29. und 30. Oktober, jeweils um 20 Uhr.