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Wider die Gewalt

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Von: Manfred Merz

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Statements mit Stimme und Köpfchen: Zelal Kapçik. © Red

Ausgerechnet am Faschingswochenende Todernstes im Stadttheater. Jahrestage kann man sich nicht aussuchen. »Vergissmeinnicht« heißt der Liederabend gegen Rassismus in unserem Land.

Der Musentempel am Berliner Platz wandelt auf gesellschaftspolitischen Pfaden. Doch diesmal steht nicht einfach eine neue Show auf dem Programm, eine Oper, ein Schauspiel. Diesmal ist die Lage ernst. Todernst. Anlässlich des dritten Jahrestags des rechtsextremistischen Attentats in Hanau, bei dem am 19. Februar 2020 neun Menschen ermordet wurden, wird im Stadttheater der Opfer und Überlebenden von rechter und rassistischer Gewalt gedacht. Der Liederabend »Vergissmeinnicht« am Samstag im Großen Haus darf als Mahnmal angesehen werden. Und, ja, man muss in aller Demut hinzufügen: Dieses Land ist nicht arm an Attentaten.

Es geht um Schmerz, um Leid, um Morde. Und nicht nur um Hanau. Väter und Mütter, Söhne, Töchter, Kinder, Freunde wurden gewaltsam aus dem Leben gerissen, in München 2016 und in Halle vor knapp dreieinhalb Jahren. Aber auch in Hannover 1994, Köln 2004 und Dessau 2005.

Eine der Hinterbliebenen fasste nach dem feigen nächtlichen Brandanschlag in Solingen 1993 mit fünf Toten ihre Gefühlswelt in Worte: »Trost gibt mir Gott. Er gibt mir im Herzen das Gefühl der Freundschaft und der Geschwisterlichkeit. So kann ich Trost finden und meinen Mitmenschen Liebe erweisen.«

Gleichwohl weiß unsere Gesellschaft über das Leben der Betroffenen zu wenig. Weder über das der Verstorbenen noch über das der Hinterbliebenen. Und, ja, man darf sich die Frage stellen, warum das so ist in einem Land, das neue Nachrichten im Minutentakt veröffentlicht, Hintergrundberichte wie geschnitten Brot offeriert, das Sympathien weckt, aber auch Abneigungen schürt.

Regisseurin Ayse Güvendiren, die am Stadttheater die Veranstaltungsreihe »Jahr der Erinnerungskultur« leitet, um ein kollektives Gedenken anzustoßen, hat gemeinsam mit Überlebenden und Opfern dieser schier unfassbaren Gewalt einen Abend konzipiert. Das Ziel: Mit Musik die Perspektiven und Erinnerungen der Opferfamilien wachhalten. Junge Schauspieler des Hauses interpretieren Lieder, die sich die Hinterbliebenen gewünscht haben. Es sind Lovesongs, Balladen, Hip-Hop, Rap, Cooles und ein Gutenachtlied für die Kleinsten unter den Getöteten. Die musikalische Leitung hat Torsten Knoll. Zwölf Songs für zwölf Schicksale. Und doch für so viel mehr.

Erhebe deinen Kopf...

Jeder Titel gehört zu einem tragischen Fall. Im Gedenken an Sahin Calisir (Meerbusch, 1992) interpretiert Izabella Radic zu Beginn »Aldirma Gönül« von Edip Akbayram, Knoll begleitet sie am Klavier. »Senke nicht dein Haupt, erhebe deinen Kopf...« singt sie. Es wird still im Großen Haus.

Videoeinblendungen zeigen Betroffene, die über ihr Los berichten. Es geht um Frieden, nicht um Rache. Aber es geht auch um Gerechtigkeit und um eine Justiz, »die gescheitert ist«. Stichwort NSU. Das Leid der Kurden in der Türkei wird ebenfalls thematisiert.

Kutlu Yurtseven betritt dreimal mit Statements und eigenen Songs die Bühne. Der gebürtige Kölner, Sozialarbeiter, Aktivist und Rapper schildert die Dinge aus seiner Sicht. »Wir wollen kein Danke, wir wollen Respekt.« Er stellt seinen kleinen Sohn vors Mikrofon. »Meine Frau hasst mich dafür«, sagt Yurtseven.

In Solidarität mit Ismet Büyük (Köln, 2004) stimmen die Solisten a cappella den Song »Ander Sevdaluk« an. Davíd Gaviria, Stephan Hirschpointner, Zelal Kapçik, Levent Kelleli, Germaine Sollberger, Radic und Knoll setzen damit auch künstlerisch Zeichen. An Can Leyla (München, 2016) erinnert der Titel »Herkes Gider Mi?«, den Sollberger und Kelleli eindringlich vortragen.

Gegen Polizeigewalt im Land hält Hirschpointner zur Gitarre das Kleinod »Saharasand« des Liedermachers Funny van Dannen bereit. Kapçik singt zum Schluss das zu Herzen gehende »Bebegim«. Die 1998 in Wien geborene Schauspielerin entwickelt sich am Haus immer mehr zur einfühlsamen Interpretin, die mit wandelbarer Stimme ihre Statements untermauert.

Am Ende gibt es für alle Beteiligten Standing Ovations vom Publikum. Und, ja, beim Verlassen des Theaters wirkt die weite Welt ein wenig wunder und verletzlicher. Trotz der närrischen Prunksitzung gegenüber in der Kongresshalle.

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