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»Wenn ich viel rede, muss ich weniger lesen!«

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Frank Goldammer und der Polizei-Trabi. © Christian Lugerth

Gießen (clg). Mit einem gutgelaunten »Da bin ich mal wieder!« nimmt Kriminalschriftsteller Frank Goldammer im Mathematikum Platz. Bevor er aus dem siebten und (vorläufig) letzten Band seiner Max-Heller-Reihe zu lesen beginnt, lässt er das Publikum fast schon in Manier eines Comedians an der Flut seiner Gedanken und Assoziationen teilhaben. Im freundlichen und weichen Dialekt seiner Heimatstadt Dresden erzählt er davon, wie bei der Anreise sein Navi am Gießener Ring verzweifelte, vermutet hinter mancher Verkehrsführung augenzwinkernd gezielten Terrorismus seitens der Politik, philosophiert über die Fehlbarkeit menschlicher Erinnerung.

Dies belegt mit diversen Fallbeispielen, auf die er bei den vielfältigen Recherchen für seine Krimis stieß. Und dann lässt er schließlich das Publikum entscheiden, welche seiner zwei neuen Lesebrillen er tragen solle. Und - zack - hat er das Auditorium charmant um den Finger gewickelt, frei nach dem von ihm ausgegebenen Motto »Wenn ich viel rede, muss ich weniger lesen!«

Die Absurditäten des DDR-Alltags

Dann liest er doch aus dem »Feind des Volkes«, Kommissar Max Hellers siebter Fall. Manchmal etwas zu schnell und sich verhaspelnd, aber stets hör- und sichtbar von der Freude an seiner Arbeit getragen. Heller, der in den sechs Bänden davor den Leser durch Nachkriegswirren, Hungerwinter, Staatsgründung und Währungsreform hüben wie drüben, die Aufstände des 17. Juni 1953 und die ganzen Mühseligkeiten des Alltags beim Aufbau des Sozialismus in der DDR geführt hatte, stößt in diesem letzten Fall erkennbar und endgültig an seine Grenzen und vor allem an die Grenzen, welche ihm die sich zunehmend nach innen und außen verhärtende Heimat setzt. Er und seine Frau Karin stehen, und dies nun ausweglos, vor der Entscheidung »Gehen oder bleiben?«. Schon Hellers Familie trägt diesen fürchterlich schmerzhaften Riss in sich. Der älteste Sohn Erwin ist nach dem Ende der amerikanischen Kriegsgefangenschaft im Westen, in Köln, geblieben. Mehr als Briefkontakt ist nicht möglich. Das Enkelkind zu sehen schon gar nicht. Sein zweiter Sohn Klaus hat sich dem Ministerium für Innere Sicherheit verschrieben, in der Überzeugung als Stasimann seine Heimat derart verteidigen zu müssen. Er geht so weit, seine Familie zu bespitzeln. Ehefrau Karin würde das Gefängnis DDR lieber heute als morgen verlassen, Max indes weiß, dass für ihn als Polizist (Hochverrat!) der Verlust der Heimat endgültig wäre.

Im Verlauf der Ermittlungen in einem brutalen Mordfall stößt Heller auf ein Wespennest. Die Vergangenheit hoher SED-Kader in der SS ist kein Lieblingsthema der führenden Sozialisten. Er wird von oben kaltgestellt und als dann auch noch der Mörder beginnt, ihn und seine Familie zu bedrohen und sein ehemaliger Assistent ihm gesteht, ihn aufgrund einer Anwerbung seines Sohnes Klaus, überwachen zu müssen, ist eine letzte Entscheidung nicht mehr zu vermeiden. Goldammer schreibt klar und schnörkellos, detailreich. Die Dialoge sind lebensnah und kommen ohne Krimi- klischees aus. Und immer wieder webt er wunderbare kleine Alltagsgeschichten ein. So führt die Episode, wie Max, unter Überwindung etlicher systembedingter Absurditäten, versucht, eine Garage für seinen neuen Trabi zu bauen, vor Augen, was Alltag in der DDR bedeutete. Man mag mitleiden und darf schmunzeln.

Zum Schluss eines sehr gelungenen Abends, verweist der sympathische Vielschreiber auf seine neue Reihe, die konsequenterweise ein Kriminalteam mit westlicher »Verstärkung« in die Zeit um den Mauerfall schickt. In der Herzensheimat Dresden. Und Max Heller? Ist nicht verschwunden.

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