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Wenn die Dunkelheit bleibt

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Von: Christoph Hoffmann

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Florian Schneider und Kerstin Germann haben dem Schlammbeiser einen Langstock gereicht und eine Verdunkelungsmaske aufgesetzt. © Christoph Hoffmann

Für sehbehinderte und blinde Menschen kann ein Gang durch die Innenstadt zu einem Hindernislauf werden. Darauf hat die Beratungsstelle »Blickpunkt Auge« jetzt bei einer besonderen Aktion hingewiesen. Anlass der Veranstaltung war der Umzug sowie die Wiedereröffnung der Geschäftsstelle.

Ein Gewitter an Geräuschen bricht los. Stimmen, Schreie, auf dem Kopfsteinpflaster klackernde Rollen, die Motoren der Stadtbusse. Das alles wirkt nahezu bedrohlich - zumal die Quelle der Kakophonie nicht auszumachen ist. Das liegt an der Spezialbrille, die für völlige Dunkelheit sorgt. Lediglich der Langstock hilft ein wenig bei der Orientierung. »Blinde hören nicht besser als andere, sie achten nur mehr auf die Geräusche«, sagt Florian Schneider von T-Ohr, dem Zentrum für Sehbehinderten- und Blindenreportagen unter der AWO Südwest. Schneider bietet an diesem Vormittag am Marktplatz einen Gang für Sehende an, der den Teilnehmern zeigt, wie sich Blinde und Sehbehinderte im Alltag zurechtfinden.

Ende 2019 waren laut Schwerbehindertenstatistik 71 544 schwerbehinderte Menschen blind, 46 858 waren hochgradig sehbehindert, 230 634 hatten eine sonstige Sehbehinderung. Ein Mensch gilt als sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 30 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normalem Sehvermögen erkennt.

Auf Kerstin Germann trifft diese Bezeichnung zu. Trotz ihrer Brille kann sie gegenüberstehende Personen nur schemenhaft erkennen. »Ich weiß also, wovon ich rede«, sagt die Gießenerin lachend, während sie am Info-Stand neben dem Marktplatz Flyer verteilt. Germann ist die Leiterin der Beratungsstelle »Blickpunkt Auge«, die nach längerer Corona-Pause bzw. Home-Office-Zeit und einem Umzug nun in der Rödgener Straße in größeren Räumen wiedereröffnet hat. »Wir wollen durch den heutigen Aktionstag auf uns aufmerksam machen und zeigen, dass wir wieder vor Ort beraten können.« Für viele sehbehinderte Menschen sei dieser persönliche Kontakt sehr wichtig. Unter anderem, da in der Beratungsstelle auch Hilfsmittel wie Langstöcke oder spezielle Brillen ausprobiert werden können, die das (Rest-)Sehen erleichtern. »Wir leben vom Kontakt, das war gerade in der Hochpandemiephase nicht möglich.«

Blinde und sehbehinderte Menschen haben in den vergangenen Jahren durch ihr Engagement für Barrierefreiheit viel erreicht, auch in Gießen. Trotzdem sei noch vieles verbesserungswürdig, sagt Germann. So würden Leitsysteme, quasi die »Autobahnen« von Sehbehinderten, regelmäßig mit Aufstellern oder anderen Gegenständen zugestellt.

Dämmerzeit für viele problematisch

Das Angebot der Beratungsstelle, sowohl in der Geschäftsstelle als auch während des Aktionstages in der Innenstadt, richtet sich nicht nur an Betroffene. »Zu uns kommen auch viele Angehörige, die ihrer Oma oder dem Ehemann helfen wollen. Aber auch Senioren, die Angst haben, bald schlechter sehen zu können.«

Diese Sorge ist nicht unbegründet. Jeder zweite Deutsche, der unter einer gravierenden Sehbehinderung leidet, ist 75 Jahre oder älter. Neben dem Grauen und Grünen Star können dafür auch Erkrankungen wie Retinopathia pigmentosa, Uveitis oder die altersabhängige Makuladegeneration verantwortlich sein. Letztere ist die häufigste Ursache für Sehbehinderungen im Alter.

Es ist durchaus möglich, dass die Beratungsstelle in den kommenden Wochen mehr Zulauf erfährt. Denn laut Germann ist die kalte Jahreszeit mit früher Dämmerung für viele Sehbehinderte besonders problematisch. »Seheingeschränkte brauchen häufig mehr Licht, um Kontraste besser wahrnehmen zu können.« Je nach Art der Seheinschränkung könne aber auch der Sommer problematisch sein, da die Sonne einen stark blendenden Faktor habe. Hier könnten Hilfsmittel wie spezielle Sonnenbrillen helfen, die bestimmte Lichtfarben herausfiltern.

Die Brille, die Schneider den Interessierten an diesem Vormittag aufzieht, lässt gar keine Farbe, gar kein Licht durch. Nach einer kleinen Einweisung zur Nutzung des Langstocks dirigiert er die freiwillig »Erblindeten« um den Marktplatz. Dabei wird schnell klar, dass ohne das Blindenleitsystem mit den Rillen im Boden eine Orientierung auf belebten Plätzen kaum möglich ist.

Gleichzeitig ist die Dunkelheit erdrückend. Das Absetzen der Brille ist eine große Erleichterung. Und gleichzeitig wird schnell klar: Diese Linderung können sich sehbehinderte Menschen nicht verschaffen.

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