»Was macht eigentlich . . .«: Begegnung mit Ulrich Reukauf
Ausstellungsmacher, Klavierstimmer und Sozialwissenschaftler: Der Künstler hat 30 Jahre in Gießen gewohnt und kehrte für die letzte Ausstellung in der Galerie Remmele noch einmal zurück.
Anfang Juni war er wieder mal in Gießen – um die letzte Ausstellung in der Galerie Remmele zu eröffnen. Mit beiden ist Ulrich Reukauf seit Langem befreundet: mit dem Galeristen Fritz Westphal und dem ausstellenden Künstler Hans Michael Kirstein, mit dem er sich schon so einige artistische Wortgefechte geliefert hat. 30 Jahre hat er in Gießen gewohnt, intensive Jahre, die mit vielfältigen künstlerischen Aktivitäten gefüllt waren. Auch als er zum Geldverdienen andernorts unterwegs war, behielt er seine Wohnung im Reichensand. Erst 2005 hat sich dies geändert.
»Gießen ist für mich bei allem Umherreisen das Zentrum gewesen. Ich bin ein unruhiger Geist, das hat sich nicht geändert, auch wenn ich derzeit das Haus meiner verstorbenen Eltern renoviere.« Jetzt freut er sich, wenn er mal wieder »nach Gießen ausbüxen« kann. Die häufigen Wohnortwechsel ist er von Kindheit an gewohnt, die Familie hat immer dem Job seines Vaters folgen müssen, der für eine US-Firma arbeitete. Die längste Zeit am Stück lebte er in Hamburg, wo er 1953 geboren wurde und – mit kleinen Unterbrechungen – bis zum zwölften Lebensjahr aufwuchs. Dann ging es erst mal nach New York, bevor wieder deutsche Städte an der Reihe waren, etwa Wilhelmshaven.
Die norddeutsche Sprachmelodie klingt immer noch durch. Er tut sich schwer mit dem fränkisch-badischen Dialekt, der ihn an seinem jetzigen Wohnort umgibt. »Den versteht meine Lebensgefährtin besser, die ist Österreicherin.« 2005 ist er in die Nähe von Baden-Baden gezogen, um seine kranke Mutter zu pflegen. Dann wurde auch sein Bruder ein Pflegefall, und er holte ihn zu sich. Die Eltern und der Bruder starben 2009. »Das waren harte Jahre, in denen ich kaum aus dem Haus kam«, erzählt er. Mittlerweile engagiert er sich wieder in örtlichen Projekten, hat ein Buch geschrieben und eine Arbeit aus der Gießener Zeit wieder aufgegriffen, die »Kultur im Wohnzimmer«. »Allerdings muss ich mein Publikum im Nordschwarzwald noch finden, der Start war in Gießen einfacher, da kannte ich schon viele Leute, die gern gekommen sind zu den Lesungen, Vorträgen und Konzerten im privaten Rahmen.«
Bei seinen Berufen wollte er sich ebenso wenig festlegen lassen wie bei seinen Wohnorten. Studiert hat er in Pforzheim, Gießen und Berlin. Fächer wie Soziologie, Pädagogik, Betriebswirtschaft – und nebenbei Musik und Kunst. Er hat in allen Bereichen gearbeitet und dabei viele Grenzüberschreitungen gewagt. So liebt er das Klavierspielen und arbeitete viele Jahre als Klavierstimmer (von 1983 bis 1996). Aus den diversen Teilen ausrangierter Klaviere gestaltete er Kunstobjekte, fertigte zum Teil wandfüllende Assemblagen. Er war an vielen Ausstellungen beteiligt, von Biedenkopf bis Salzburg, von Paris bis St. Petersburg, wo er auch eine Zeit lang lebte.
Den Höhe- und offenbar auch Endpunkt seines Kunstschaffens markiert die Einzelausstellung »Der qualitative Sprung« in der Kunsthalle Gießen im Frühjahr 1999. Die Einladungskarte informiert über sein »typisches Gießener Schicksal«: »Er wollte nie nach Gießen, wollte immer von Gießen weg und ist immer noch da: als freischaffender Künstler, Dozent und Galerist.«
1997 hatte er den Sprung in die Kunstvermittlung gewagt und die Räume der ehemaligen Galerie Remmele im Seltersweg als Galerie reaktiviert. Dank seiner Erfahrung als Vorsitzender der Galerie-Werkstatt »Perspektive« in Heuchelheim startete er mit viel Schwung und erprobte Neues; etwa das Projekt »Grenzgänge«, in dem Künstler aus verschiedenen Sparten zusammenkamen. Nach zwei Jahren strich er die Segel aus dem allseits beklagten Grund: Kaum jemand kauft Kunst, zumindest in Gießen kann kein Galerist davon leben.
Er konzentrierte sich stärker auf seine Dozententätigkeit am Uni-Klinikum, frischte seine Wirtschaftskenntnisse mit einem Kurzstudium an der Uni Gießen wieder auf (1998 - 2000) und führte über Jahre im Auftrag einer Wetzlarer Unternehmensberatung Branchenuntersuchungen durch. Dazu kam ehrenamtliches Engagement in der deutsch-bulgarischen Gesellschaft. Er unterstützt das Straßenkinder-Projekt von Georgi Kalaidjiev, mit dem er seit »Kultur im Wohnzimmer«-Tagen befreundet ist. Gemeinsam haben sie mehrere Reisen nach Bulgarien unternommen. Reukauf hält Vorträge zum Thema und kümmerte sich im vergangenen Jahr auch um die Kindergruppe, die zu Besuch war.
Bei seiner letzten Gießen-Stippvisite trafen wir uns zum Gespräch auf dem leer geräumten Samen-Hahn-Areal. Von seiner Wohnung hatte er drei Jahrzehnte direkt auf das Gebäude geblickt, hat die Zerstörung des Treppenhauses und den Abriss des hinteren Teils miterlebt. An die Proteste erinnert er sich noch gut, auch er war daran beteiligt. Dank der Internetseiten der Gießener Tageszeitungen blieb er auf dem Laufenden. »Es stimmt traurig, dass sich Kapitalinteressen auf so brutale Weise durchgesetzt haben«, sinniert er vor dem Stein mit dem Namenszug Heinrich Hahn.
Wie würde er Gießen und seine Menschen charakterisieren? »Pragmatisch mit einem Hang zur Lieblosigkeit sich selbst gegenüber. Weltoffen, geprägt durch die Universität. Eine sehr friedliche Stadt. Unkompliziert.« Schließlich habe er durch seine vielen Umzüge ein Sensorium entwickelt für die spezielle Atmosphäre einer Stadt. »Außerdem: Gießen leistet sich ein wunderbares Stadttheater. Das ist nicht selbstverständlich, aber ungemein wichtig und bereichernd für eine Stadt.«
Und sein Buch? Erscheint demnächst. Darin greift er eine Idee auf, die anlässlich einer Ausstellung mit seinen Klavierstühlen in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar entstand. Sein Vortrag »zum Verhältnis des Klavierstuhls zu seinem Klavier« hat Bibliotheksleiterin Bettina Twrsnick so begeistert, dass sie ihn ermunterte das Thema umfassend zu behandeln. Wer Reukaufs Sprachmächtigkeit kennt, der ahnt, dass Anspruchsvolles und Amüsantes zu erwarten ist. Dagmar Klein