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»Waffen sind Waffen«

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Von: Burkhard Möller

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Ab in die Ukraine? Unter anderem um den deutschen Schützenpanzer Marder ist die Diskussion um die Lieferung »schwerer« Waffen an die ukrainische Armee entbrannt. © Red

Gießen (mö). Erst Corona, jetzt der Krieg der Ukraine: Wieder hat die deutsche Gesellschaft ein Thema, das polarisiert. Vor allem, wenn es um die Frage geht, wie weit Deutschland bei der militärischen Unterstützung der Ukraine gehen soll. Die Frage der Waffenlieferungen habe den Charakter einer »Spaltungsdiskussion«, sagte am Donnerstag Professorin Andrea Gawrich, Vizedirektorin des Zentrum Östliches Europa der JLU, zu Beginn einer Online-Podiumsdiskussion, zu der sich fast 100 Interessierte eingeloggt hatten.

Allein dieses Interesse, das weit über wissenschaftliche Kreise hinausgeht, zeigt für Unipräsident Professor Joybrato Mukherjee, wie wichtig es ist, dass die Gießener Universität die in ihrem Osteuropa-Zentrum versammelte »Expertise« einer »zutiefst besorgten« Öffentlichkeit und der Politik zur Verfügung stellt. Seine rhetorische Frage, ob der Krieg in der Ukraine »auch unser Krieg ist«, beantwortete Mukherjee in seinem Grußwort mit der Aussage: »Die Ukraine kämpft für Werte und gesellschaftliche Grundlagen, die auch für uns von Bedeutung sind.« Mit dem Erfolg oder Misserfolg des russischen Angriffs verbinde sich die Frage, ob »das Recht des Stärkeren« zum globalen Prinzip werde.

In einem weiteren Grußwort bedankte sich der ukrainische Konsul Vadym Kostiuk für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und warb für Waffenlieferungen. »Wir brauchen Waffen, um unsere Stellung zu halten«, sagte Kostiuk.

Auf dem Online-Podium diskutierten:

Mariia Vladymyrova: Die Expertin für Internationales Recht sowie für Kriegs- und Konfliktforschung ist Mitarbeiterin des Grünen-Bundestagsabgeordneten Omid Nouripour. Sie hält die Lieferung auch schwerer Waffen aus Deutschland an die ukrainische Armee für völkerrechtlich zulässig und geboten. »Die Behauptung, dass damit der Krieg weiter eskaliert wird, findet Anklang, hat aber mit der Realität einer brutalen Kriegsführung nichts zu tun«, sagte Vladymyrova. Nach ihrem Eindruck suche die Bundesregierung »nur Argumente, schwere Waffen nicht zu liefern«. Der deutschen Regierung fehle es an einer »strategischen Vision und einem langfristigen Plan«, wie sie mit der Ukraine und Russlands Aggression umgehen soll.

Andreas Umland : Der Osteuropa-Experte arbeitet für das Stockholm Centre for Eastern European Studies und definierte zunächst einige »deutsche Interessen« an der Eindämmung des Konflikts. Er nannte die Atomkraftwerke und künftige Flüchtlingsbewegungen. »Was passiert, wenn zu den Flüchtlingen jetzt noch fünf oder sechs Millionen Hunger-Flüchtlinge aus Asien hinzukommen?« Den Konflikt präge entscheidend auch der Bruch des Budapester Memorandums und weiterer Verträge durch Russland. Die Ukraine habe damals auf ihre Nuklearwaffen verzichtet, im Gegenzug habe Russland die Souveränität der früheren Sowjetrepublik garantiert. Nun drohe Putin der Ukraine mit einem Atomwaffeneinsatz. Dies sei eine »Lehre für die ganze Welt«. Nach Einschätzung von Umland verbleibe die Ukraine mittelfristig in einer sicherheitspolitischen »Grauzone«. Weder ein Sturz Putins noch ein NATO-Beitritt seien in Sicht. Daher sei die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine auch dauerhaft nötig.

Kersten Lehl: Der Bundeswehr-Generalleutnant a.D. und ehemalige Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik stieg mit einem persönlichen Statement ein: »Es macht mich unglaublich wütend, dass und wie der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist.« Für die Ukraine gehe es um die »nackte Existenz«. Ohne Waffen von außen sei das Land »chancenlos«. Militärhilfe durch Dritte sei auch »moralisch verpflichtend« und die Unterscheidung zwischen leichten und schweren Waffen »künstlich«. »Waffen sind Waffen«, sagte der Ex-Offizier. Das Argument, die Ukrainer könnten mit Systemen wie den deutschen Marder- oder Leopard I-Panzern nicht umgehen, sei nicht stichhaltig. Kampferprobte Soldaten könnten die Geräte innerhalb von zwei Wochen beherrschen. Das Problem sei vielmehr, dass die »dramatischen Probleme« der Bundeswehr eine Abgabe dieser Waffen nicht zuließen »Wer kann ausschließen, dass sich der Krieg noch auf NATO-Gebiet ausdehnt?«, fragte Lehl.

Streitpunkte: Gab es auf dem Podium nicht, woran die Diskussion auch krankte. Bei einem polarisierenden Thema, wie den Waffenlieferungen, hätte der Gegenstandpunkt vertreten sein müssen, dann freilich auch sicherheitspolitisch hinterlegt und nicht nur ethisch-moralisch begründet. Widerspruch äußerte Lehl zur Idee von Umland, »Veteranen« aus dem Westen, die auf der Seite der Ukraine kämpften, die NATO-Waffensysteme bedienen zu lassen. Lehl: »Von diesem Söldnertum halte ich überhaupt nichts.«

Fazit: Die Zuhörer hörten viele Argumente für die Lieferung auch schwerer Waffen aus Deutschland an die Ukraine. Die Unklarheit, wie Putin auf derlei Unterstützung reagieren wird, konnte das Panel nicht beseitigen. Zurückkommen wird man früher oder später auf Vladymyrovas Kritik an einer fehlenden deutschen Osteuropa-Strategie. Im Moment muss die deutsche Politik erst einmal den Schock verarbeiten, dass 20 Jahre Russland-Politik im wahrsten Sinne des Wortes in Trümmern liegen.

216 Personen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft studieren oder forschen im Moment an der Gießener Justus-Liebig-Universität. Für den Großteil, der sich in der Heimat befinde, sei die JLU im Moment ein »digitaler Lernort«. Aber auch in Gießen hielten sich aktuelle Gastwissenschaftler und Studierende auf, sagte Präsident Mukherjee.

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