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Von Träumen und Abgründen

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Von: Christine Steines

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Holger Hauch am Bett eines kleinen Patienten. ARCHIV © Oliver Schepp

In Zeiten von Pandemie, Krieg und Zukunftssorgen gerät das Leid anderer leicht aus dem Blickfeld. Dr. Holger Hauch ist Leiter des Kinderpalliativteams des UKGM. Er und seine Kolleginnen sehen täglich Familien mit schwer kranken Kindern, die nicht wissen, wie viel Zeit ihnen noch bleibt. Er gibt Einblicke in eine Welt voller Träume und Abgründe.

Herr Dr. Hauch, wie haben Sie die Arbeit mit schwer kranken Kindern in der Pandemie erlebt?

Die Eltern unserer Patienten stehen im Alltag immer wieder vor besonderen Herausforderungen. Neben der normalen Routine ist da die Ungewissheit, wie viel Zeit mit dem geliebten Kind ihnen noch bleibt. Der Beginn der Pan- demie hat diese Ängste noch verstärkt.

Damals wusste man noch nicht viel, und es gab keine Impfstoffe.

Richtig. In dieser Zeit haben wir versucht, die Hausbesuche möglichst kurz zu halten. Tägliche Testungen des Personals und Besuche im Einwegkittel, FFP2-Maske, Kopfhaube und Handschuhen waren notwendig. Mittlerweile hat sich die Situation entschärft, erfordert aber eine tägliche Wachsamkeit und Sorgfalt. Wir testen uns, alle von uns sind geimpft und wir achten auf alle Schutzmaßnahmen.

Was war bei den Besuchen anders als sonst?

Die Schutzkittel und die Maske schränken die Authentizität leider ein. Vor allem die Familien ohne deutsche Muttersprache sind benachteiligt, weil die Kommunikation schwieriger ist. Wir müssen besonders aufpassen, dass die Verständigung nicht leidet.

Empathie und Nähe sind bei Ihrer Arbeit besonders wichtig, war das angesichts von Abstand und Maske möglich?

Ich glaube, dass sich das un-bewusst in den letzten Jahren geändert hat: Mehr Ausdruck über die Stimme, mehr Gesten - damit versuchen wir ein wenig mehr Verständnis zu signalisieren.

Statt von Sterbebegleitung sprechen Sie von Lebensbegleitung bis zum Schluss. Ihnen ist es wichtig, dass die Kinder heitere Momente erleben. Wie kann man sich das vor-stellen?

Das ist mir ein besonderes Anliegen. Wenn ein Kind in unsere Versorgung kommt, leben nach sieben Jahren noch mehr als 30 Prozent der Kinder. Und jahrelang nur auf den Tod warten? Das wäre auch für mich oder meine Familie nicht akzeptabel. Im ersten Schritt geht es darum, störende und leidvolle Symptome, Schmerz, Angst oder Ähnliches in den Griff zu kriegen. Dann kann man den Blick auf andere Dinge lenken: Essen, soziale Interaktionen, Schule, Freunde und vielleicht auch mal eine Reise.

Ihr Team hilft unter anderem auch dabei, den Kranken Herzenswünsche zu erfüllen. Das sind immer sehr emotionale Ereignisse. Können Sie uns Beispiele nennen?

Ja, zum Beispiel den »Flieger«. Dieser großartige Junge hatte uns eine klare Ansage gemacht: Ich gehe nicht, bevor ich nicht geflogen bin. Vielen Helfern ist es zu verdanken, dass ein Hubschrauber kam und ein schöner Tag mit Rundflug über das hessische Bergland wahr wurde.

Es gab auch einen besonderen Besuch in einem Schwimmbad…

Ja, das war auch sehr bewegend. Ein Junge, der extrem isoliert werden musste und keinen Kontakt mehr zur größeren Familie haben durfte, wünschte sich sehnlich ein Bad im warmen Wasser, mit tropischem Ambiente und Cocktails. Eine Reise war aufgrund des schlechten Zustands unmöglich. Die Stadt Aßlar hat kurzfristig ihre Therme mit Wasser gefüllt, desinfiziert und mit Sole aufgefüllt. Und dann durfte der große Kreis der Familie einen ganzen Tag zusammen dort sein - mit einer Rettungsdienstcrew und dem Palliativteam im Hintergrund. Dies war ein sehr schöner und zugleich trauriger Tag. Er konnte aber der Familie Nähe, Zusammensein und Würde für ein paar Stunden schenken. Wenige Zeit später ist der Junge gestorben.

Sie haben die Angebote vorgeburtlicher Beratung ausgeweitet. Wenn Eltern vor der Geburt ihres Babys die Diagnose einer lebensverkürzenden Krankheit bekommen, stellt sich die Frage, ob sie die Schwangerschaft fortführen wollen. Welche Erfahrungen machen Sie mit dieser Unterstützung?

Dies ist ein Thema, das dem ganzen Team sehr am Herzen liegt. Die werdenden Eltern stehen vor einem großen dunklen Abgrund. Sie sollen entscheiden über einen Abbruch oder das Kind ver- suchen zu gebären.

Was ist Ihr Ansatz bei der Beratung?

Wir versuchen die Wertvorstellungen der meist jungen Familien zu erfragen, um so den Bedürfnissen der Klienten in einer ethischen und würdevollen Atmosphäre begegnen zu können. Es kann für die eine Familie richtig sein, die Schwangerschaft zu beenden, und für die andere eben auch besser sein, das Kind für Stunden, Tage oder länger bei sich zu Hause zu haben. In dieser Zeit stehen wir den Familien rund um die Uhr bei und gehen den Weg gemeinsam.

Das Besondere dieses Angebotes ist die Inter- disziplinarität?

Ja, genau. Ohne die Vernetzung mit den Kollegen und Kolleginnen der Gynäkologie, Geburtshilfe, der Pränataldiagnostik, der Neonatologie, Neuropädiatrie und Kinderkardiologie könnte man das nicht machen. Das geht nur mit vielen Experten, weil die Erkrakungen meist selten sind, und nur Expertise, Erfahrung und Menschlichkeit können diesen verunsicherten und leidenden Eltern einen Funken Hoffnung und Stärke geben, diese Zeit gut zu überstehen.

In Ihren Vorlesungen für angehende Mediziner und Medizinerinnen berichten Sie von Ihrer Arbeit. Was ist das Wichtigste, das Sie den Studierenden mitgeben möchten?

Erst einmal geht es mir um die Bedeutung von Authentizität und Empathie. Wenn die angehenden Ärzte versuchen, sich in die Situation der Patienten hineinversetzen, dann bekommen sie viele Geschenke zurück: Eine höhere Wahrscheinlichkeit, die richtige Diagnose stellen zu können, weil die Patienten sich öffnen und so mehr über die Erkrankung geklärt werden kann. Wenn Patienten merken, dass man sich um sie bemüht, dann bekommt man ein Lächeln zurück, einen dankbaren Händedruck. Das ist manchmal mehr wert als ein paar Euro mehr auf dem Konto.

Es geht aber sicher auch darum, was Palliativmedizin vermag.

Natürlich, denn das ist selbst Fachleuten nicht klar. Als ich mal auswärts einen Vortrag über die Palliativversorgung von Kindern gehalten habe, sagt ein renommierter Lehrstuhlinhaber spontan: »Ich dachte immer, in der Palliativmedizin könnte man gar nichts mehr machen.« Wenn die Studierenden nach meiner Vorlesung darauf einen guten Konter geben können, dann habe ich ein Lernziel erreicht.

Sie sind »Vollprofi«, aber auch ein mitfühlender Mensch und Vater. Gibt es ein Ereignis, das Sie während der Pandemie oder jetzt nach Kriegsausbruch besonders bewegt hat?

Das fällt mir schwer zu beantworten. Wenn ich mir vorstelle, mit welchem Aufwand wir versuchen, kleine Schritte zu schaffen und sich das ganze Team total freut, wenn wir etwas erreichen, dann ist das sehr schön. Und wenn ich dann höre, dass am gleichen Tag eine Rakete in ein Kinderkrankenhaus in der Ukraine eingeschlagen ist, viele Leben in Sekunden ausgelöscht und Familien zerrissen wurden - dann bleibe ich sprachlos und nachdenklich zurück. Und wenn einem dann bewusst wird, dass das im Jemen, Syrien, im Sudan und in anderen Ländern auch passiert, dann muss ich mich zum Glauben daran zwingen, dass das Gute auf lange Sicht gewinnt.

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