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Von Leidenschaften und Sehnsüchten

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Von: Sascha Jouini

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Virtuos und fesselnd: Schauspielerin Anette Daugardt in den Marktlauben. © Sascha Jouini

Gießen (jou). Dass ein älterer Mann ein Verhältnis mit einer jungen Frau eingeht, ist nichts Ungewöhnliches. In Stefan Zweigs Novelle »24 Stunden aus dem Leben einer Frau« aus dem Jahr 1927 sind die Rollen indes vertauscht: Eine Endvierzigerin hat eine aufwühlende Begegnung mit einem Mittzwanziger. Die Berliner Schauspielerin Anette Daugardt, in Gießen keine Unbekannte, hat die Novelle selbst bearbeitet und daraus eine sehens- und hörenswerte szenische Lesung gemacht.

Die stark besuchte Aufführung im Rahmen der Reihe »Einer(r) liest« am Sonntagvormittag in den Marktlauben war eine Premiere, wird das Stück doch erst danach ins Repertoire des KantTheaterBerlin aufgenommen. Die ausgesuchte Musikuntermalung - mal Klassik auf diversen Instrumenten, dann Pop, - unterstrich die Stimmung und weckte Mitgefühl für die Leidenschaften und Sehnsüchte der Protagonistin. Diese blickt Jahre später auf 24 Stunden zurück, die ihr Leben für immer verändern sollen, empfindet es dabei als befreiend, ihre Geschichte zu erzählen.

Unerträgliches

Alleinsein

Ihre Ehe ist harmonisch, doch stirbt ihr Mann, als sie 48 Jahre alt ist. Das Alleinsein erträgt sie kaum und beschließt, um der inneren Leere entgegenzuwirken, Reisen zu unternehmen. Erfüllung bringt das zunächst nicht, so bleibt ihr Paris fremd. Nach einem Monat gelangt sie nach Monte Carlo. Dort beobachtet sie im Casino Leute und versucht aus deren Gesten Charakterzüge abzulesen. Fasziniert ist sie von einem jungen Mann, der beim Roulette schließlich sein ganzes Geld verliert. Sie befürchtet, dass er Selbstmord begeht, und will ihm helfen - wohlwissend, dass er sie mit in die Misere reißen könnte. Doch schafft sie es, den erst abweisenden Lebensmüden dazu zu bewegen, im Hotel zu übernachten.

Am nächsten Morgen wirkt er wie neugeboren und erzählt ihr, wie er spielsüchtig wurde, nicht einmal einen Diebstahl scheute, um seinem Drang nachzugehen. Ihr wird klar, »dass dieser Mensch vergiftet war von seiner Leidenschaft bis in den letzten Blutstropfen«, heißt es da prägnant. Er schwört ihr, nie wieder zu spielen, doch kommt es, wie es kommen muss: Als sie ihm Geld für die Abreise gibt, findet sie ihn kurz darauf wie besessen am Roulettetisch wieder ...

Insgeheim eine

Affäre erhofft

Daugardt erzählte die spannende Geschichte hochvirtuos und verstand es, die Besucher bis zur letzten Minute zu fesseln. Ihre markante Mimik wie Gestik sorgte für besondere Anschaulichkeit. Da wurde deutlich, dass die Protagonistin dem Mann nicht nur aus Nächstenliebe hilft, sich vielmehr insgeheim eine Affäre erhofft. Diese emotionale Ebene entwickelte starke Sogkraft. Als Botschaft blieb haften: So flüchtig Begegnungen auch sein mögen, sie können in uns bleibende Spuren hinterlassen. Und können auch ohne Happy End Prozesse in Gang setzen, die aus uns andere Menschen machen.

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