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Von Kurzwaren und Innovationen

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Das Geschäftshaus von Alexander Salomon, das er von 1907 bis 1935 an der Ecke Schulstraße/Wagengasse betrieb. FOTOS/REPROS: SCHMIDT © Red

Ein besonderes Kapitel Stadtgeschichte hat - passend zum Jubiläumsjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« - der Gießener Sammler Werner Schmidt recherchiert. Er erzählt von jüdischen Kurzwarenhändlern und einem der ersten Franchise-Unternehmen in Deutschland.

Als der amerikanische Professor für Naturwissenschaften Charles Francis Himes auf einer Europareise im Sommer 1890 auch seinen ehemaligen Studienort Gießen besuchte, logierte er in dem renommierten Hotel »Einhorn« am Kirchenplatz. Als begeisterter Fotograf wollte er seine Reiseeindrücke festhalten und so fotografierte er aus dem Hotelfenster heraus das Treiben der Gießener auf dem Kirchenplatz. Kinder auf dem Schulweg sind ebenso zu sehen wie Marktfrauen auf dem Weg zum Lindenplatz oder eine Kolonne von Soldaten in Arbeitsmontur auf dem Weg zum Marktplatz. Wahrscheinlich war er sich bei seinen Aufnahmen nicht bewusst, dass er neben der damaligen Engelapotheke am Kirchenplatz auch die Geschäftsräume eines für diese Zeit besonderen Ladens mit ablichtete.

Während im Erdgeschoss der Metzger Rosenbaum seine Fleischerzeugnisse anbot, erreichte man über eine Treppe im ersten Stock ein Lager, das von seiner originären Verbindung her für die Gießener Geschäftswelt ein großes Potenzial besaß. Es handelte sich um das seit 1885 von Alexander Salomon betriebene »Hamburger Engros-Lager«, eine Kommanditgesellschaft, die in großem Stil und sehr erfolgreich Kurzwaren vertrieb.

Komplementär war die in Hamburg ansässige Firma M.J. Emden & Söhne, hinter der eine jüdische Kaufmannsfamilie stand, die konsequent eine Geschäftsidee verfolgte. M. J. Emden & Söhne half den örtlichen Geschäften mit Krediten, Beratung in Geschäftsführung und Werbung. Als Gegenleistung wurden die ortsansässigen Geschäftsinhaber vertraglich verpflichtet, alle Waren nur von M.J. Emden & Söhne zu beziehen.

Kommanditist Alexander Salomon

Das Prinzip des Franchising wurde damit in Deutschland erstmalig in großem Stil betrieben. Mit seinen günstigen Großhandelspreisen konnte Salomon in einem 1891 aufgegebenen Inserat durch die Vereinigung von 150 Geschäften werben, und schon zwei Jahre später war von über 210 Geschäften unter dem Dach der Hamburger Engros Läden die Rede.

Für Salomon liefen die Geschäfte wohl sehr positiv, das Warensortiment umfasste mittlerweile »Mode-, Kurz- und Weißwaaren« und so betrieb er 1895 einen Umzug in ein größeres Ladenlokal, verbunden mit einem Räumungsverkauf: »Wegen Umzug nach Schulstraße 4 werden vorher große Parthien unseres Lagers zu bedeutend ermäßigten Preisen geräumt. Bei 10 Mk. Einkauf eine Blouse nach Wahl gratis.«

Die von Salomon erworbene Immobilie an der Ecke Schulstraße/Wagengasse hatte eine spitzwinklige Form und beherbergte in den beiden unteren Etagen die neuen Geschäftsräume. Für die Warenpräsentation ließ er die zur Schulstraße liegende Hausfront repräsentativ mit Holzpaneelen umgestalten und als Eingangsbereich nutzen. Insgesamt dürften damit im »Hamburger Engros-Lager« ca. 320 Quadratmeter Verkaufsfläche zur Verfügung gestanden haben.

Die Konkurrenz war groß und im Branchenverzeichnis der Stadt Gießen von 1900 sind 25 Kurzwaren-, 20 Modewaren- und 32 Weißwarengeschäfte gelistet. Daneben boten noch 220 »Nätherinnen und Kleidermacherinnen« ihre Dienste an. Der wirtschaftliche Vorteil des Großhandelseinkaufes war aber so groß, dass die Geschäftsstrategie des Kommanditisten Salomon trotz der zahlenmäßig hohen Konkurrenz weiterhin sehr erfolgreich war.

Um der größeren Angebotspalette besser gerecht werden zu können, wurde 1906 auf dem bisherigen Grundstück ein neues Gebäude geplant, das durchaus Großstadtflair ausstrahlte. Auf Trottoirniveau ist ein bequemer Eingangsbereich geschaffen worden, gekrönt durch einen steinernen Vorhangbogen. Darüber ein querovales Fenster mit radialer Teilung, links und rechts die hoch aufragenden Schaufenster mit den darüberliegenden Oberlichtern, wodurch die Illusion einer außergewöhn- liche Verkaufsraumhöhe erweckt wurde. Betrat eine Kundin das Geschäft, so konnte sie sich für ihre Kaufwünsche auf drei Etagen umsehen.

Die Hausfront zur Wagengasse lässt ein Zwischengeschoss erkennen. Das darüberliegende Geschoss erreichte die Kundin über ein lichtdurchflutetes Treppenhaus, das an die Wagengasse angrenzte und fast ein Drittel der Haustiefe beanspruchte. Diese Beletage mit den großen Halbrundfenstern beherbergte wohl auch die Kontorräume und das Büro des Inhabers, dessen darüberliegende Wohnräume nur durch die halbrunden Balkons Richtung Schulstraße eine zusätzliche Außenwirkung erhielten.

Epoche der großen Warenhausgründer

In der Zentrale des »Hamburger Engros-Lagers« ist ebenfalls die Zeit weitergegangen, denn durch den Eintritt des Sohnes Max Emden in die Geschäftsleitung gab es einen Innovationsschub. Es war die Epoche der großen Warenhausgründungen und die hanseatische Kaufmannsfamilie M.J. Emden & Söhne mischte als Gesellschafter kräftig mit.

Auch wenn Gießen nicht mit den Berlin oder München zu vergleichen war, so ist doch die Gestaltung des Hauses Salomon sehr wahrscheinlich durch die Geschäftsphilosophie der Hamburger Zentrale mit beeinflusst worden.

Für die Bauzeit des neuen Hauses ging der Geschäftsbetrieb weiter. Wahrscheinlich verpackten weibliche Angestellte - es ging ja unter anderem auch um diskret zu handhabende Weißwäsche - die verbliebene Ware in Kartons, die durch das Rollfuhrunternehmen Adam oder Lyncker transportiert wurden. Zieladresse war die Mäusburg 10, ein zu dieser Zeit leerstehendes Ladenlokal, in dem für etwa ein Jahr die Geschäfte des »Hamburger Engros-Lagers« weitergeführt wurden.

In der Schulstraße war drei Jahre zuvor die Engelapotheke ebenfalls in einen Neubau eingezogen, der mit seinem goldenen Engel auf der Welschen Dachhaube an der Ecke zum Marktplatz einen glänzenden Blickfang bildete. Vor dem Haus führte noch die Linie B der Gießener Pferdeomnibus-Gesellschaft vorbei, die drei Jahre später durch die »Elektrische« abgelöst wurde mit Haltestellen am Marktplatz und an der Ecke zur Sonnenstraße.

Mit dem Einzug in das neue Haus wird der frisch gebackene Schwiegersohn Arthur Dreyfuß zusammen mit Alexander Salomon als Inhaber geführt. Bis zum Ersten Weltkrieg bildete das »Hamburger Engros-Lager« mit seinem für Gießener Verhältnisse sehr mondänen Aussehen in der 1A-Lage die Anlaufstelle für Kurz-, Weiß- und Wollwaren, wenn es um eine exklusive Sortimentsvielfalt ging.

Modewarenhaus Alexander & Co.

Der verlorene Krieg, die Novemberrevolution in Hamburg und der Tod von Alexander Salomon waren einschneidende Ereignisse, die möglicherweise die Entscheidung für die Abwendung von den Hamburger Franchisegebern beeinflussten. Die Wege trennten sich und fortan firmierte das Geschäft als »Modewarenhaus Alexander & Co.« Ein doppelseitiges Inserat im Gießener Adressbuch von 1920 beschreibt das Zielklientel und das Warenangebot: »Dame, Hausfrau, Mutter und Kind müssen dieses Haus kennen, denn für sie ist es die wichtigste Adresse .... müssen wissen, daß sie in den verschiedenen Verkaufsabteilungen ... alles finden, was sie zur Ausrüstung in der Gesellschaft, im Haus, auf der Straße, im Trauerfall und in jeder anderen Lebenslage finden.« Unter der Leitung von Arthur Dreyfuß musste sich das Geschäft gegen die Konkurrenz durchsetzen, die vor allem in den Textilgeschäften Bette, Kaufhaus Elsoffer, Kaufhaus Heilbronner, Levermann, Loos, Nowack, Seuling und Teipel bestand.

Kein Stolperstein für Meta Dreyfuß

Alle durchlebten gleichermaßen die Tiefen und Höhen der Inflation, Einführung der Rentenmark, den Aufschwung in den Zwanzigern und die Weltwirtschaftskrise. Der wiedererstarkende Antisemitismus und der Tod des Firmeninhabers Arthur Dreyfuß im April 1934 ließen die Witwe nicht an eine Zukunft in Gießen glauben. 1935 wurde das Geschäft von Meta Dreyfuß an Franz Schneberger übergeben und sie verzog im August 1936 nach Frankfurt. Im Adressbuch von 1937 wird sie noch als Hauseigentümerin angeführt, 1939 findet sich dann aber kein Eigentümereintrag mehr für diese oder andere jüdische Immobilien. Für Meta Dreyfuß, geborene Salomon, wurde kein Stolperstein verlegt, denn sie entging dem Schicksal vieler Gießener Juden und starb 1971 in den Vereinigten Staaten.

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Dieser Ausschnitt aus Charles Francis Himes' Fotografie von 1890 (l.) zeigt den Blick vom Hotel »Einhorn« auf die Häuser Kirchenplatz 12 mit dem Engel über der Tür und rechts davon das Haus mit dem »Hamburger Engros-Lager« im ersten Stock. © Red

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