Vom Schulhof zu den Sternen

Der Titel »Mädchenschule« klingt allzu »pädagogisch wertvoll«. Die Geschichte Chiles, die das Stück von Nona Fernández zum Hintergrund hat, ist hierzulande höchstens in Grundzügen bekannt. Und doch zaubert Regisseurin Anaïs Durand-Mauptit aus der Vorlage einen wunderbar schmissig-unterhaltsamen Theaterabend - voller Poesie, Witz und Tiefgang.
Als das Publikum im Großen Haus Platz genommen hat, erklingt Carolin Webers Stimme säuselnd aus dem Off. Man möge doch bitte die Handys ausschalten, sagt sie auf Deutsch, Englisch und Spanisch. Und es wird still im Saal. Davíd Gaviria zaubert derweil mit Tanzbewegungen den Schriftzug »Die Mädchenschule« an die Bühnenwand. Plötzlich erklingt in einer der vorderen Zuschauerreihen ein Telefon. Ein Mann nimmt den Anruf an, steht peinlich berührt auf und begibt sich auf die Bühne. Es ist Schauspieler Ben Janssen. Er wird als Physiklehrer in den folgenden knapp zwei pausenlosen Stunden eine Geschichtsstunde der mitreißenden Art erleben.
»Eine jede Generation fragt sich aufs Neue, mit dem gleichen Erstaunen: Was sind die Sterne?«, lautet ein Zitat des Astronomen Carl Sagan. Die chilenische Autorin Nona Fernández zeigt in ihrem Stück »Mädchenschule«, dass jede Generation nicht nur die großen Fragen der Menschheit stellt, sondern auch aufbegehrt. Sie erzählt von dieser Protestkultur, indem sie unkonventionell die Geheimnisse des Universums mit einem dunklen, aber universell einsetzbaren Kapitel chilenischer Geschichte verbindet.
Die Figuren in »Mädchenschule« sind realen Ereignissen nachempfunden, als sich in den 1980er Jahren junge Menschen gegen die Militärdiktatur Pinochets erhoben. Drei dieser revoltierenden Mädchen - von Carolin Weber, Anne-Elise Minetti und Paula Schrötter mit viel Sinn für Situationskomik als sympathisch-kecke Teenager gespielt - haben sich damals vor der Polizei in der Schule versteckt. Vierzig Jahre später, wieder einmal herrscht Unruhe in der Stadt, stößt nun ein nervöser Physiklehrer auf das Trio, das nur langsam versteht, wie viel Zeit tatsächlich vergangen ist. Ihre Jugend, ihre Träume, ihre Unbeschwertheit haben die drei, die sich nach Sternbildern benannt haben, verpasst. Die Zukunft, wie sie sie sich erhofft haben, wird es nicht mehr geben.
Eindrückliche Bilder und krasser Sound
Regisseurin Anaïs Durand-Mauptit und die für Bühne und Kostüme zuständige Hilke Fomferra finden für die Geschichte eindrückliche Bilder und brechen das Spiel immer wieder mit heiteren pantomimischen Einlagen auf. Eine große, schräge Asphaltfläche als Symbol des Schulhofs löst sich, so wie auch die gefühlte Realität der Mädchen, in Einzelteile auf. Riesige Podeste schweben empor und werden zum Sternbild im Universum. Auch die bühnenhohen, mittels Computertechnik gealterten Gesichter der Mädchen gehören zur beeindruckenden Optik dieser durchweg gelungenen Inszenierung.
Weil eines der Mädchen bei der Erstürmung der Schule durch die uniformierten Häscher seine Stimme verloren hat, kommuniziert es über Schriftzüge auf einem Bühnenvorhang, gesteuert allein durch die Bewegungen seines Körpers. Gewaltszenen werden durchweg in Erzählungen geschildert. Nur wie eines der Mädchen durch Polizeigewalt zum Schweigen gebracht wird, ist auf offener Bühne zu sehen und darum umso eindrücklicher: Ein Gewaltexzess im Bühnennebel und mit harten E-Gitarren-Klängen.
Die erzeugt am Bühnenrand Margarethe Zucker alias Dominik Tippelt. Dass die Soundkulisse wie ein fünfter Spieler fungiert, ist schlüssig, strapaziert aber mit Loop-Maschine und vor allem dröhnender E-Gitarre auch die Ohren.
Realität und Fiktion verschwimmen zunehmend. Das macht das Stück kurzweilig und auch für junges Publikum attraktiv. Der nach einer wahren Figur erschaffene »gealterte Junge« (Davíd Gaviria als getöteter Widerstandskämpfer und wortgewaltiger Wiedergänger) taucht wie ein Geist immer wieder auf und erzählt, was früher geschah - das sind Momente voller Intensität. Am Ende wird es, bei einer Art Nachspiel, komplett surreal. Denn eine »ganz normale Familie« mit riesigen Schwellköpfen liefert den Revolutionär seinen Verfolgern aus. Der Kampf, er findet nicht nur im fernen Chile statt, sondern überall auf der Welt.
Der verdiente Jubel des Publikum war Schauspielern und Regie am Ende der Premiere gewiss.
Weitere Vorstellungen folgen am 11. März, 1. und 15. April, 5. und 7. Mai, 2., 4. und 30. Juni sowie am 9. Juli.