Vom Ich zum Wir

Auf reges Interesse stieß am Samstag eine Musik und politische Kommentare verknüpfende Veranstaltung in der Petruskirche. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt bot ihre erhellenden Reflexionen im Wechsel mit Johann Sebastian Bachs Kantate »Ich hatte viel Bekümmernis«.
Verstärkt durch Solisten musizierten die Petruskantorei und das Main-Barockorchester Frankfurt unter Leitung von Marina Sagorski. Die Kantorin hatte auch die Idee zu dem Konzert. In der Einführung erläuterte Gerhard Schulze-Velmede, Vorsitzender des evangelischen Dekanats Gießen, die identitätsstiftende wie politische Dimension von Musik. Bachs 1714 uraufgeführte Kantate erinnere, eingangs dunkle und bedrückende Gefühle wiedergebend, an gegenwärtige Krisen, erfahre dann aber einen positiven Stimmungswechsel.
Vom Seelenschmerz zum Frieden
Den düsteren Ausdruckssphären spürte das Main-Barockorchester in der eröffnenden Sinfonia inspiriert nach. Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt lieferte auf der Basis einer gut nachvollziehbaren Beschreibung der Musik politische Denkanstöße. Die Kantate sei »ein Lobgesang auf das Klagen«. Niemand müsse sich stärker machen, als er ist. In großer Schönheit werde geklagt, dabei erweiterten sich Herz und Seele.
In der Sopranarie »Seufzer, Tränen, Kummer, Not« etwa weine eine Seele um den abwesenden Gott, Trauer und Sehnsucht hänge hier quasi in der Luft.
Die Kantate lasse, wie Göring-Eckardt weiter ausführte, dem großen Weltschmerz ebenso Platz. Von dort aus spannte die Politikerin den Bogen zum Leid der ukrainischen Bevölkerung. »Wir könnten uns nur verneigen vor der unermesslichen Stärke der Ukrainer«. Einige von ihnen habe sie selbst kennengelernt, unter anderem auf einer Reise nach Odessa ans schwarze Meer. Eine dieser Frauen, Nadja, sage, es sei angesichts von Gewalt und Schrecken schwer auf der Seite des Friedens zu stehen.
Im zweiten Teil ihrer Betrachtungen veranschaulichte die Bundestagsvizepräsidentin den »Seelenkampf«, der sich im Rezitativ (Nr. 7) und der anschließenden Arie manifestiere. Das »innere Ringen, ob es Gott gut mit einem meint« spiegele sich in den vom Sopran und Bass gesungenen Dialogen einer Seele mit Jesus wider. Der Konflikt zwischen Glauben und Zweifeln sei »ein Kampf zweier Stimmen in existenziellen Fragen«, in denen wir uns befreiende Ratschläge erhofften.
Der wiedergewonnene seelische Frieden komme in der Kantate im finalen Lobgesang zum Ausdruck. Im Ganzen zeige die Komposition den Weg auf von einer Ich-Bezogenheit zum Wir-Gefühl. Dem hafte vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges auch eine politische Dimension an, so seien, zitierte Göring-Eckardt erneut Nadja, die Ukrainer nur gemeinsam imstande, die äußeren und inneren Kämpfe zu besiegen.
Ukraine-Hilfe verteidigt
Die aus Thüringen stammende Politikerin verteidigte die Solidarität des Westens mit der Ukraine; für die Freiheit sei sie einst zur Wende Ende der 1980er Jahre in der DDR selbst auf die Straße gegangen. Diese Solidarität sei indes mit Einschränkungen verbunden; mit aller Kraft und dem geschenkten Trost könnten wir den Weg zu einer »Welt des Weniger und des Wesentlichen« gehen, meinte sie optimistisch.
Das Erläuterte musikalisch nahe brachte die emotional berührende Interpretation der Kantate. Dazu bei trugen die hervorragenden Solisten, Sopranistin Gabriele Hierdeis, Countertenor Dmitry Egorov, Tenor Clemens Löschmann und Bassist Raimonds Spogis. Dem feierlichen Schlusschor mit Pauken und Trompeten folgte ein lang anhaltender Beifall.
