Von der Vielfalt zur Einheit
Wenn Fernost auf West trifft, geht es um Differenzen. Aber auch um Lösungen. Und um Harmonie. Mit seinem neuen Tanzabend »Cross!« gelingt Choreograf Tarek Assam im Stadttheater ein großer Wurf.
Von wegen Konflikte: Die Harmonie der Körper beherrscht von Anfang an die Szenerie, auch wenn es um Gegensätze geht. Natürlich lassen sich die Diskrepanzen zwischen Fernost und West nicht einfach so aufheben. Zu groß scheinen die Gräben zwischen den Kulturen zu sein. Doch unter dem Titel »Cross!« zaubert Choreograf Tarek Assam eine Symbiose auf die Bühne. Er vereint im Stadttheater zeitgenössischen europäischen Tanz mit spektakulärer Akrobatik aus China. Das begeisterte Publikum spendet bei der Premiere im Großen Haus am Samstag euphorisch Applaus.
Rot gegen Rot
Im Zeichen des Kunst-Crossovers stehen am Beginn des Stücks die Differenzen, wenn die sieben rot gekleideten Tänzer auf der einen und die sieben in noch tieferes Rot gewandeten Akrobaten auf der anderen Seite die quadratischen Bühnenelemente zu einer Art Pontonbrücke zusammenlegen, bis sie erkennen, dass ausgerechnet das Verbindungsglied in der Mitte fehlt. Alle rauschen arrogant in ihr Territorium zurück. Doch schon im ersten Teil der ausgefeilten Choreografie dürfen sich die Protagonisten zu kleinen Einheiten formieren. Sie zeigen dem anderen zwar ihre Skepsis, entwickeln aber auch Wohlgefallen aneinander, um dann vor der Pause doch wieder empört die Bühnenquader von links nach rechts hin- und herzuschubsen, getreu dem Motto: Wir sind immer noch unser eigener Chef.
Von Ost nach West
Im Zweiten Teil wird nicht nur Hochzeit gefeiert und Pas de deux aus Fernost und West getanzt, am Ende darf endlich die zu Beginn begonnene Brücke fertiggestellt werden. Bunte Lichter leuchten, alle reichen sich die Hände, sind glücklich und auch optisch geeint. Der Weg von Ost nach West und umgekehrt erscheint nun frei und passierbar.
So weit ist die Realität noch nicht. Tanz-direktor Assam musste im Vorfeld allerlei Schwierigkeiten überwinden und Behördenauflagen erfüllen. Von der Verpflegung über die Unterkunft bis zum verständnisvollen Miteinander war es ein weiter Weg der Yate-Akrobatengruppe aus der chinesischen Metropole Shenzhen nach Gießen. Und dann gab es da noch das Essen mit Stäbchen.
Asiatische Akrobatik
Assam hat daraus in seinem Stück eine Nummer gemacht. Magdalena Stoyanova zeigt den Gabeltanz, verschwindet in den Aussparungen der Bühnenholzwürfel, lässt Kampfkunst aufblitzen und präsentiert sich in mitreißender Spiellaune. Ihr ebenbürtig agiert Sven Krautwurst, wenn er im Tutu mit roten Kniestrümpfen und in Chucks den sterbenden Hahn gibt, was die Dame (Zhao Huimin) in prächtiger chinesischer original Opernrobe mit Verwunderung zur Kenntnis nimmt. Auch alle anderen Künstler sind mit Vehemenz bei der Sache. Die Gruppenszenen haben Dynamik, die Soli Chuzpe (Top: Lorenzo Rispolano), Klischees werden fein herausgearbeitet. Der Akrobatik der Asiaten spendet das Publikum Zwischenapplaus.
Assam setzt bei »Cross!« mit Kostümbildnerin Gabriele Kortmann und Bühnenspezialist Fred Pommerehn auf bewährte Mitarbeiter. Kortmann hat in China edle Stoffe eingekauft und alles farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Ihr Rot symbolisiert Liebe und Zorn gleichermaßen. Das variable Licht von Jan Bregenzer unterstreicht die Optik. Pommerehn hat Holzkuben ersonnen. Sie stehen mit ihrer geometrischen Form für asiatische Klarheit, verfügen über ein quadratisches Loch in der Mitte, sind leicht zu handhaben und lassen sich so ins Bühnengeschehen einbinden.
Brillanz, Energie, Feuer
Die pulsierende Musik steuert das Münchner Komponistenkollektiv 48nord bei. Die drei Sound-Botschafter Ulrich Müller, Siegfried Rössert und Patrick Schimanski haben schon 2017 für Assams blutrünstigen Tanzabend »Titus Andronicus – Ein Machtspiel« die Musik aus live spielendem Orchester und Elektroklängen vom Band komponiert. Live-Tonkunst gibt es diesmal nicht. Gleichwohl ist der Sound fesselnd. Das Trio kreiert aus den Gegensätzen der europäischen und asiatischen Musik rumorende Brisanz, die den Crossover-Gedanken facettenreich interpretiert und mit rhythmisch starker Struktur Tanzimpulse gibt.
Tarek Assam hat in seiner neuen Arbeit zahlreiche Details zu einem kulturübergreifenden stilistischen Ganzen verwoben. »Cross!« hat Brillanz, Energie und Feuer. Aus Vielfalt wird Einheit. Ein Meilenstein.