Vielfältiger jüdischer Widerstand

Der Aufstand im Warschauer Ghetto ist der bekannteste Akt jüdischen Widerstands gegen die Nationalsozialisten. Doch Juden haben sich noch viel öfter und auf vielfältige Arten während des Holocaust gegen die Deutschen und deren Helfer aufgelehnt. Darüber sprach die renommierte Professorin Andrea Löw im Rathaus.
Es geistert noch immer der unausgesprochene Vorwurf herum, dass sich viele Juden nicht gegen die Nationalsozialisten und den von Deutschland ausgehenden Holocaust gewehrt hätten - meist in Form einer harmlos daherkommenden Frage. Das Narrativ, dass »die passiven Juden« ebenfalls Schuld an ihrem Schicksal tragen könnten, nennt die stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München »beleidigend«. Es ignoriere die Rahmenbedingungen - und fasse den Widerstandsbegriff zu eng, sagt Löw, die drei Jahre lang in der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig-Uni (JLU) Gießen gearbeitet hat. In ihrem Vortrag im Hermann-Levi-Saal im Rathaus zeigte sie die Vielfalt der jüdischen Widerstandshandlungen auf. Der Einladung der Lagergemeinschaft Auschwitz, der Arbeitsstelle Holocaust-Literatur und der Jüdischen Gemeinde Gießen waren rund 50 Zuhörerinnen und Zuhörer gefolgt.
Der Vorsitzende der Lagergemeinschaft, Gerhard Merz, nannte das Thema in seiner Einführung »hochaktuell« - auch mit Blick auf den am 19. April begangenen 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto. Diesen bezeichnete Löw - laut Merz »eine herausragende Kennerin« der Materie - den bekanntesten Akt jüdischen Widerstands in Europa. Es gebe aber eine Vielfalt von Handlungsweisen, die zeigten, dass von einer Passivität der Juden im Holocaust keine Rede sein könne.
Löw sagte, die unterschiedlichen Arten und Phasen des jüdischen Widerstands hingen vom jeweiligen Land und der Einstellung der oftmals »gleichgültig bis feindselig« eingestellten Bevölkerung gegenüber Juden ab. Europaweit sei es zu bewaffneten Akten in Ghettos gekommen, Juden seien untergetaucht, hätten Flugblätter verteilt, Fabriken sabotiert. In Deutschland habe der Fokus auf der Rettung von Menschen gelegen - insbesondere von Kindern. Den Kampf um Leben und Würde, den die Juden ausfochten, bezeichnete Löw als »oft aussichtslos«. Dennoch wehrten sie sich erfolgreich gegen den Plan der Nationalsozialisten, nicht nur jüdisches Leben, sondern auch die Erinnerung daran komplett auszulöschen - mit einer Art kulturellen Widerstands.
So gab es Musik, Lesungen und Kulturkreise, die als »Beweise des starken Lebenswillen und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft« dienen sollten, wie Löw sagte. Die Professorin zitierte Emanuel Ringelblum, der 1940 mit Mitstreitern das Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto gründete. Er schrieb an einen Freund über den Sinn dieses Archivs: »Falls keiner von uns überlebt, soll wenigstens das bleiben« - das Vermächtnis in Form von Tagebüchern, Aufzeichnungen, von der Geschichte einzelner Schicksale und des Massenmords der Nazis, oftmals versteckt in Blechkisten und Milchkannen.
Erinnerungen in Blechkisten
Viele Juden seien damit beschäftigt gewesen, ihr Leben in einem System zu sichern, in dem ihr Überleben von den Deutschen nicht vorgesehen gewesen sei. Sie flohen, schlossen sich Partisanen an, versteckten sich in den von den Nationalsozialisten gegründeten jüdischen Ghettos in Bunkern - und widersetzten sich damit sehr wohl den Deutschen, wie Löw betonte. Zu den Waffen griffen die Menschen, als erste Meldungen von Geflüchteten über den Massenmord durch die Nazis nach Außen drangen. Ab da ging es für manche nur noch um die Frage eines selbstbestimmten Todes. Bei einem Aufstand im Ghetto von Bialystok hieß es laut Löw in einem Aufruf: »Außer unserer Ehre haben wir nichts mehr zu verlieren.«
In 50 Ghettos hätten sich bewaffnete Widerstandsgruppen gegründet, sagte Löw - wobei die Zahlen wegen der Quellenlage mit Vorsicht zu genießen seien. In den Gruppen habe es Diskussionen darüber gegeben, wann ein Aufstand begonnen werden solle. Oft sei der Tenor gewesen, dies solle nicht geschehen, solange es noch Hoffnung gab, das Leben von Teilen der Bevölkerung zu retten. Der bewaffnete Kampf sollte erst starten, wenn das Ghetto aufgelöst und die Bewohner in die Vernichtungslager gebracht werden sollten.
Löw zeigte anschaulich auf, wie vielfältig sich Juden gegen die Deutschen auflehnten. Von Passivität kann also keine Rede sein. Die Frage einer jungen Zuhörerin zum Ende der Veranstaltung brachte ihr den spontanen Applaus von Sascha Feuchert, dem Leiter der Arbeitsstelle für Holocaustliteratur, ein. Sie sagte: »Wieso fragt man Juden, warum sie sich nicht gewehrt haben? Warum fragt man nicht alle anderen, warum sie den Menschen nicht geholfen haben?«
