Verkehrsversuch in Gießen: Rettungswege werden durch Fahrradstraßen kürzer

Neues vom geplanten Verkehrsversuch auf dem Gießener Anlagenring: Die Fahrradstraße auf den inneren Spuren wird Rettungswege nach Überzeugung der Gutachter verkürzen.
Gießen – Als Anfang März 2021 im Stadtparlament der Verkehrsversuch mit Fahrradspuren am Anlagenring beschlossen wurde, war dieses eines der ersten Gegenargumente: Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienste werden bei Einsatzfahrten behindert. Seit Freitagabend (3. Juni) dürfte diese Befürchtung gegenstandslos sein. Die Helfer und Retter könnten im Gegenteil von der versuchsweisen Verkehrsführung profitieren.
„Beispiele aus deutschen Großstädten oder den Niederlanden haben gezeigt, dass Feuerwehr und Rettungsdienste auf solchen Fahrradstraßen schneller durch den Stadtverkehr kommen. Radfahrer können halt schneller Platz machen als Autofahrer“, erklärte Verkehrsplaner Jens Rümenapp bei einer Online-Bürgerinformationsveranstaltung, zu der der Magistrat eingeladen hatte. Am Übergang ins lange Pfingstwochenende hatten sich vor Heimcomputern und Tablets in der Spitze immerhin fast 100 Interessierte eingefunden.
Änderungen auf den Straßen in Gießen: Rettungsdienste kommen schneller voran
Die Frage nach den Rettungsdiensten war nur eine von vielen zum Verständnis dessen, was sich im kommenden Jahr auf der innerstädtischen Verkehrshauptschlagader verändern soll. Wann genau der Verkehrsversuch starten wird, steht offenbar noch nicht fest. Bürgermeister und Verkehrsdezernent Alexander Wright (Grüne) beließ es bei der allgemeinen Ankündigung: „Wir wollen das im kommenden Jahr umsetzen.“
Nachdem der Stadtverordnetenbeschluss zu den Fahrradstraßen lange Zeit nicht umgesetzt wurde, kam es am 4. März 2022 in Gießen zu einer Fahrraddemo.
Für die Eingeweihten, die die Zeitungsberichterstattung der letzten Wochen verfolgt haben und/oder sich den Bericht zur Prüfung verschiedener Ausführungsvarianten des Verkehrsversuchs von der Homepage der Stadt heruntergeladen hatten, bot die erste Stunde bekannte Informationen. Der von der Stadt mit Ausarbeitung und Prüfung von Varianten beauftragte Planer Rümenapp aus Berlin präsentierte die Ergebnisse, die vor zwei Wochen dem parlamentarischen Verkehrsausschuss vorgestellt wurden.
Bei Rettungseinsätzen in Gießen: Einsatzkräfte können auf Fahrradstraßen ausweichen
Wie berichtet, präferieren die Gutachter die Variante, bei der der Radverkehr auf einer Fahradstraße im Zweirichtungsverkehr auf den beiden inneren Spuren des Anlagenrings geführt wird. Der Autoverkehr wird auf den beiden äußeren Spuren als Einbahnstraße geführt, eine separate Busspur gibt es nicht. Innen fahren die Stadt- und Regionalbusse auf der auf Tempo 30 begrenzten Fahrradstraße und können die bestehenden Haltestellen anfahren. Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste, Müllabfuhr und Anwohner, die ihre am Anlagenring gelegenen Grundstücke erreichen müssen, können die Fahrradstraße befahren. Zu den größten Parkhäusern auf der Innenseite des Anlagenrings (Neustädter Tor, Karstadt, Westanlage) kann der Pkw-Verkehr gegen die Einbahnstraße am Elefantenklo, am Oswaldsgarten und an der Gabelsbergerstraße den kurzen Weg nehmen und die Radspuren befahren.
Die vor allem vom Einzelhandel oft gestellte Gretchenfrage, was der Verkehrsversuch für die Erreichbarkeit der Innenstadt mit dem Auto bedeutet, beantwortete Rümenapp auch am Freitag (4. Juni) mit dem Adjektiv „ausreichend“. Auf der Grundlage von Simulationen, bei denen von „Worst-Case-Szenario“ angenommen wurde, gehen die Gutachter von „punktuellen Stauungen“ aus. Einen Zusammenbruch des Autoverkehrs schließt Rümenapp aus.
Experte aus Gießen meldet sich zu Wort: Mögliche Komplikation zwischen Bussen und Fahrrädern
Eine nur sporadisch eingerichtete Einbahnstraßenregelung, die am 14. Mai bei einem Verkehrsaktionstag zeitweise und abschnittsweise zu langen Staus auf dem Anlagenring geführt hatte, lasse sich nicht mit einer Verkehrsführung vergleichen, bei der auch die Ampelkreuzungen neu justiert würden, antwortete Rümenapp auf einige Wortmeldungen aus dem Chat.
In die Debatte um den Verkehrsversuch eingeschaltet hat sich der bekannte frühere Gießener THM-Professor und Verkehrsplanungsexperte Nobert Fischer-Schlemm. In einer schriftlichen Stellungnahme hatte der Allendorfer vergangene Woche mit Blick auf den vorgesehenen gemischten Gegenverkehr von Radfahrern und Bussen auf den Innenbahnen Sicherheitsbedenken geäußert. Am Freitagabend ergänzte er seine Argumente um den Hinweis, dass Ausfälle von Ampelanlagen an Kreuzungen wie die an der Südanlage, Ecke Bleichstraße/Fina-Parkhaus zu Gefährdungen der Radfahrer und „schweren Flankenunfällen“ führen könnten. Zudem sagte er voraus, dass Radfahrer wegen Wartezeiten vor Ampeln es bevorzugen werden, im Autoverkehr auf den Außenbahnen mitzufahren.
Fahrradstraße für attraktivere Innenstadt in Gießen: Neue Fahrradfahrer gewinnen
Ein Argument, das Bürgermeister Wright und Gutachter Rümenapp dankbar aufnahmen, um das Ziel des Verkehrsversuchs deutlich zu machen. Es gehe darum, in der Innenstadt sichere Wege für den Radverkehr zu schaffen, denn nur so könne man Menschen zum Umstieg vom Auto aufs Rad bewegen. „Es geht nicht um die geübten Radfahrer, die es gewohnt sind, im Pkw-Strom mitzuschwimmen“, verdeutlichte Rümenapp. Denen bleibe es unbenommen, weiterhin mit dem Autoverkehr zu fahren, zumal die Fahrradstraße keine Benutzungspflicht auslöse.
Auch Wright betonte, dass es darum gehe, durch sichere innerstädtische Radrouten mehr Leute aufs Rad zu bringen, um letztlich den Autoverkehr zu reduzieren. „Das ist kein Symbolprojekt, sondern ein erster wichtiger Schritt für eine attraktivere Innenstadt“, sagte der Grünen-Politiker.
Neue Fahrradstraße in Gießen: Verständlichkeit ist wichtig
Mehrere Mitdiskutanten im Chat äußerten die Befürchtung, dass der Busverkehr durch die Mitbenutzung der Radspuren zu stark ausgebremst werden könnte. MitBus-Geschäftsführer Matthias Carl brachte den Gedanken ein, von der Variante ohne eigene Busspur auf eine mit Busspur zu wechseln, falls der Busverkehr in der zur Ausführung empfohlenen Variante zu viel Fahrzeit verliere. Rümenapp empfahl, die gesamte Wegstrecke einer Buslinie in den Blick zu nehmen und nicht nur den Abschnitt, den der Bus auf dem Anlagenring zurücklegt. Auf der Gesamtstrecke ließen sich Zeitverluste durch Beschleunigungstechnik ausgleichen.
Die Planer, die im Auftrag der Stadt auch den neuen Verkehrsentwicklungsplan erstellen, hatten mehrere Varianten untersucht: Mit Radspuren innen und Autospuren außen im Zweirichtungsverkehr, mit Radspuren innen, einer Bus- und einer Autospur außen sowie mit Radfahrstreifen auf den äußeren Spuren. Bewertungskriterien waren die Verbesserung für den Radverkehr, die Verkehrssicherheit, die Abwicklung des Bus- und Autoverkehrs, die Verständlichkeit der Verkehrsführung und der baulich-technische Aufwand. Kostenschätzungen sind in der Ausarbeitung nicht enthalten. Wright kündigte weitere Infoveranstaltungen an. (Burkhard Möller)