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»Unser altes Leben ist weg«

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Von: Kays Al-Khanak

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Ein Feuerwehrmann steht in Kiew vor einem Einkaufszentrum, das durch Granaten, Bomben oder Raketen getroffen worden ist. © Red

Der in Gießen aufgewachsene Ario Dehghani hat den Folgen des russischen Angriffskriegs ein Gesicht gegeben. Er berichtete vor und während des Überfalls von Putins Armee immer wieder über die Lage in der Ukraine, wo er gemeinsam mit seiner Familie viele Jahren gelebt hat. Aktuell befinden sie sich in Deutschland - aber die Rückkehr in die Ukraine ist fest geplant.

Ario Dehghani sitzt Anfang März in der Ukraine in einem abgedunkelten Zimmer und führt ein Videogespräch mit einer Journalistin des ARD-Brennpunkts, während um ihn herum die Welt untergeht. 20.15 Uhr, beste Sendezeit. Der gebürtige Gießener ist eines der Gesichter der ersten Tage und Wochen des Angriffskriegs Russlands auf dessen Nachbarland, der am 24. Februar begonnen hat. Dehghani macht abseits der großen Politik die Auswirkungen der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende erfahrbar, weil er unaufgeregt aus dem Alltag in seiner Wahlheimat erzählt. Mitten im Live-Interview kommt sein Sohn herein. Und Dehghani? Dreht sich um und kümmert sich um ihn, während die Moderatorin kurz stutzt. Es ist ein banaler, aber umso bewegender Moment, weil hier jeder sehen kann, wer die Opfer des Krieges sind: Menschen. Und wie gleichzeitig diese Menschen sich umeinander kümmern, sich Halt geben. So gut es eben geht.

Anfang diesen Jahres schaut die Welt zur Ukraine. Im Norden, Süden und Osten zieht die russische Armee immer mehr Truppen zusammen. Zu diesem Zeitpunkt telefonieren wir zum ersten Mal miteinander. Dehghanis Mutter ist Licherin, sein Vater Perser. Der heute 46-Jährige wird in Teheran geboren; die Familie muss nach der Revolution Hals über Kopf aus Iran fliehen. »Noch drei Jahre später hatte ich Albträume von der Flucht«, sagt Dehghani. Die Familie kommt nach Gießen und bleibt dort. Dehghani und sein Bruder gehen hier zur Schule, studieren und spielen beim MTV Gießen Basketball.

2014 zieht der Rechtsanwalt zusammen mit seiner ukrainisch-russischen Ehefrau nach Kiew, arbeitet aber zwei Jahre lang noch alle zwei Wochen in München. 2016 sucht er sich in Kiew einen neuen Arbeitgeber und hat seitdem dort seinen beruflichen und privaten Lebensmittelpunkt. Die beiden Kinder sind heute fünf und sieben Jahre alt. Als sich Putins Truppen sammeln, beziehen Dehghani und seine Familie gerade ihr Eigenheim in einem kleinen Dorf südlich der Hauptstadt.

Die Dehghanis halten nach dem Beginn des Angriffs in ihrem Dorf die Stellung. Sie nehmen Nachbarn und Freunde auf. Die Gemeinschaft geht in die Garage, der als Bunker dient, wenn die russische Armee wieder Raketen regnen lässt. Unser Kontakt bleibt zu dieser Zeit bestehen, auch wenn es manchmal nur ein paar Whats-App-Zeilen sind. Nach einer Bombennacht schreibt er: »Heute Nacht vier Stunden geschlafen. Luxus.« Ende Februar schickt er die Nachricht: »Frieden kommt am Ende des dunklen Tunnels.« Dann wieder berichtet er, wie Freunde, die humanitäre Hilfe hätten leisten wollen und in den Vororten unterwegs gewesen seien, von russischen Soldaten getötet worden seien. Seine Nachricht endet mit dem Wort: »Unfassbar.«

Dehghani berichtet von russischen Saboteuren, die durch sein Dorf gezogen seien, um Häuser und Straßen zu markieren, die als Ziel gelten oder von der Armee genutzt werden könnten. Als Gerüchte aufkommen, dass die berüchtigten tschetschenischen Soldaten im Nachbardorf geplündert und Kriegsverbrechen verübt hätten und die russische Armee in einer Zangenbewegung versucht, die ukrainische Hauptstadt einzukesseln, flieht die Familie in der zweiten Märzwoche.

»Wir wollten eigentlich in den Westen der Ukraine«, erzählt Dehghani, »aber es gab dort kaum noch freie Wohnungen.« Deshalb die Entscheidung, über Rumänien weiter nach Deutschland zu fahren, in die alte Heimat. Seine Eltern nehmen die Familie auf. Die mehrmonatige Wohnungssuche bleibt jedoch erfolglos. Nach einem Besuch bei seinem Cousin in Speyer besorgt dieser den Dehghanis eine Wohnung und einen Kita-Platz für den Sohn. Außerdem hätten sich die drei Kinder seines Cousins sofort mit seinem Sohn und seiner Tochter verstanden. Die Sieben- und der Fünfjährige seien dort regelrecht aufgeblüht.

Das ist nicht selbstverständlich. Denn auch wenn Dehghani und seine Frau versucht haben, ihre Kinder so lange wie möglich vom Krieg abzuschirmen, stellen diese natürlich viele Fragen - vor allem nach dem Warum. »Wir haben ihnen erklärt, dass dieser Krieg getrieben wird von einem Gefühl, das nicht menschlich und gut ist«, sagt Dehghani. »Und trotzdem sind es Menschen, die dies tun.« Er erzählt von einer Situation, die sich in einer der ersten Schulwochen in Deutschland zugetragen hat. Seine Tochter habe sich so wohlgefühlt, dass sie den Lehrer gefragt habe, ob sie solange wiederkommen dürfe, bis keine Bomben mehr auf ihr Dorf fielen.

Die Familie richtet sich in Speyer ein. Dehghani ist seinem Arbeitgeber in Kiew dankbar, dass dieser ihm weiter Gehalt zahlt. Sie haben andere geflüchtete ukrainische Familien kennengelernt und helfen diesen zum Beispiel bei Behördengängen. »Die Menschen sind dankbar, dass wir eine Brücke zwischen Ukrainern und Deutschen bilden können.« Die Dehghanis helfen aber auch den Daheimgebliebenen, die trotz des Bombenterrors der russischen Armee weiter ausharren. Sie finanzieren zum Beispiel den Transport von Generatoren in die Ukraine. Außerdem haben sie einem Freund ihr Haus überlassen. Er lebte in einem Wohnblock und hat durch die anhaltenden Angriffe der russischen Armee auf die lebensnotwendige Infrastruktur der Ukraine keinen Zugang mehr zu Strom oder fließendem Wasser. Im Haus der Dehghanis sieht das Dank eines Generators und eines eigenen Brunnens anders aus.

Der Krieg verfolgt die Familie auch in Speyer. Auf einem Spielplatz, erzählt Dehghani, habe er eine Frau kennengelernt, die aus Russland stammt. Sie habe ihm erzählt, dass ihre Kinder in der Schule wegen des Krieges gemobbt würden. Dehghani ist weit davon entfernt, diese Familie zu verurteilen, weil sie russisch ist. »Warum sollten wir uns entzweien lassen, nur weil die Politik das versucht?«, habe er ihr gesagt. Später habe sie sich an ihn gewandt, weil ihr Bruder als russischer Soldat gefallen sei. Sie habe gezögert, auf dessen Beerdigung in die alte Heimat zu fahren, weil sie Angst gehabt hätte, dort »den ganzen Müll« über die Gründe der sogenannten Spezialoperation, über Opfer fürs Vaterland und und und anhören zu müssen. »Ich habe ihr geraten, für ihren Bruder hinzufahren«, sagt Dehghani - und bei der Propaganda wegzuhören.

Eine Rückkehr in die Ukraine hatten die Dehghanis für Anfang 2023 vorgesehen. Doch angesichts des anhaltenden Beschusses durch Raketen und Drohnen hat die Familie die Pläne auf den Sommer verschoben. Auch deshalb, weil dann die Tochter die Schulklasse und der Sohn die Vorschule abgeschlossen haben. In ihrem Dorf, das kurz nach Kriegsbeginn einem Geisterdorf geglichen habe, sei mittlerweile wieder Leben eingezogen. Nachbarn würden fragen, wann die Dehghanis wieder zurückkommen wollen. »Ist doch alles okay«, würden sie ihnen schreiben. Nein, nicht alles: Elvira, eine ältere Nachbarin, ist tot, gestorben eines natürlichen Todes. »Sie hat zu Beginn des Angriffs auf unserer Couch geschlafen«, erzählt Dehghani. Weil sie an Alzheimer erkrankt sei, habe sie die Umstände für ihren Umzug oft nicht einordnen können. »Für sie war das ein Urlaub.« In den lichten Momenten habe sie jedoch geweint und gefragt: Warum tun uns die Russen das an? Dehghani sagt heute: »Der Bombenhagel zeigt doch die eigentliche Absicht: Es geht nicht um eine angebliche Befreiung, es geht um Zerstörung.« Nur: Der 46 Jahre alte Jurist ist sich sicher, dass sich Putin verkalkuliert hat. »Ich kenne die Ukrainer besser als er«, sagt Dehghani. »Sie werden immer trotziger.«

Auch er und seine Familie lassen sich nicht einschüchtern. Seine Ehefrau war vor einigen Wochen in Kiew. Alle zusammen wollen bald ebenfalls die Hauptstadt besuchen, um vorzufühlen, wie die Kinder mit der Situation umgehen. »Unser altes Leben ist weg«, sagt Dehghani, »aber wir wollen zurückgehen, um beim Wiederaufbau zu helfen.«

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