Und immer wieder Gießen…

Friederike Kretzen war Studentin in Gießen. Sie hat als Dramaturgin in München gearbeitet und lebt als Schriftstellerin in Basel. In ihren Büchern kommt Gießen immer wieder vor - auch in ihrem neuesten.
Zu den Kreativen, die in jungen Jahren an der Gießener Universität studiert haben, gehört auch die Schriftstellerin Friederike Kretzen. In ihren Büchern kommt Gießen immer wieder vor, auch in ihrem neuesten. »Die Studienjahre 1975 bis 1981 waren für mich eine spannende und prägende Zeit. Damals war alles in Bewegung, man konnte so vieles kennenlernen, ausprobieren und auch wieder verwerfen.«
Theatergruppe Gutenbergstraße
Sie wohnte anfangs im besetzten Haus Gutenbergstraße, das in der Gießener Szene fast legendär ist. Sie war auch Teil der Theatergruppe Gutenbergstraße, wovon sie in ihrem Buch »Übungen zu einem Aufstand« (2002) erzählt. Mit diesem Buch war sie 2003 nach Gießen eingeladen, vom Germanistik-Institut unter Leitung von Prof. Günter Oesterle, organisiert von Dr. Rolf Haaser. Es gab eine öffentliche Lesung im Sparkassen-Foyer und mehrere Termine für Poetik-Vorlesungen im Margarete-Bieber-Saal der Universität.
Natürlich hatte sie während ihrer Studienzeit Kontakt mit der damaligen Frauenszene, gehörte zur Redaktionsgruppe, die 1976 das »Giessener Frauen-Blatt« herausbrachte. Eine Mischung aus eigenen Gedichten, Informationen zum § 218, Tipps für den Besuch beim Frauenarzt, Kritik an sexistischen Bildern, Artikeln und Übergriffen, etwa durch US-amerikanische Soldaten. Zu lesen ist auch ein Aufruf an Frauen, gemeinsam ein Frauenhaus zu eröffnen. Und es wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass eine nächste Ausgabe erscheint, Leserinnen sind zum Einsenden von Beiträgen aufgerufen. Doch es gab keine zweite Ausgabe, so Kretzen. »Es passierte so unglaublich viel gleichzeitig.«
Unter anderem war es die Zeit der Backpacker und der Fernreisen im VW-Bus, am liebsten auf dem Landweg bis Indien. Was heute kaum vorstellbar, geschweige umsetzbar ist angesichts der Kriegshandlungen. Aber damals, da reisten sie gemeinsam nach Indien, auf der Suche nach einem verschollenen Freund. Davon erzählt sie in ihrem Buch »Schule der Indienfahrer« (2017), für das sie den Schweizer Literaturpreis erhielt. Im Verlagstext heißt es: »Indien erweist sich als Schneegestöber der alten Wünsche, sich frei zu machen, auszuwandern und nie still zu stehen. Davon erzählt Friederike Kretzen in 27 Lektionen. Die wichtigste besagt: Zeit zu verlieren ist eine Kunst. Es ist das Leben, das Lehren erteilt.
In einer dichten Prosa voll assoziativer Bilder entwirft die »Schule der Indienfahrer« eine Erinnerung an die Epoche, in der Träume noch geholfen haben. Sie erzählt mit einem Hauch von Nostalgie, mit hellwachen Beobachtungen und mit viel Witz.« Sie beschreibt Orte in Gießen und Personen, auch wenn sie nur Vornamen nennt.
Indienfahrt mit Abdul M. Kunze
Zu erfahren ist an einer Stelle, »dass Abdul jetzt Kindertheater in Gießen macht«. Theateraffine wissen, dass es sich dabei nur um Abdul M. Kunze handeln kann, der zweimal am Gießener Theater war, mit Henri Hohenemser und später unter der Intendanz Miville.
Nach ihrem Soziologie- und Ethnologie-Studium (1975 bis 1981) war Friederike Kretzen für kurze Zeit Theaterdramaturgin am Stadttheater Gießen, dann am Residenztheater München. Bereits 1983 ging sie in die Schweiz, die zur Wahlheimat wurde, auch der Liebe wegen. Sie hat über Jahre an dortigen Literatur-Instituten unterrichtet, Seminare gegeben und war Mentorin für angehende Schriftsteller.
»Ich bin geprägt von den künstlerischen Filmen der 70er und 80er Jahre, von Jean-Luc Godard und Alexander Kluge, Fassbinder natürlich«, erzählt sie im Gespräch. Das Montage-Verfahren, das Kluge anwendete, das Zusammenbringen verschiedener Themen und Zeitebenen, die dadurch entstehende Verfremdung, das ist auch ihr Ding. Sie hat Kluge in ihrer Gießener Zeit erlebt, als er ins Heli-Kino kam und nach der Filmpräsentation für Gespräche zur Verfügung stand. Dass er bis heute ein höchst beweglicher und lebendiger Geist geblieben ist, das hat sie im vergangenen Jahr bei der von ihr mitorganisierten Tagung »Warburgs Passage« im Engadin erlebt. »Für ihn ist das Nachdenken über Bilder unabschließbar, er steht da wirklich in der Nachfolge von Aby Warburg«, resümiert Kretzen.
Seit kurzem ist sie im offiziellen Ruhestand, was für kreative Menschen nicht bedeutet, dass sie aufhören mit dem, was sie antreibt. Sie reiste vor einiger Zeit in den Iran, den sie schon bei ihrer ersten Indienfahrt erlebt hatte. Daraus entstand ihr neues Buch mit dem poetischen Titel »Bild vom Bild vom großen Mond« (Dörlemann-Verlag, Zürich 2022, gebunden 25 Euro). Auch hierfür geben die Gießener Jahre wieder die Ausgangsbasis. »Gießen war voll von persischen Studenten, die alle voller Hoffnung waren, dass die Revolution in ihrem Land eine positive Veränderung bringt.« Träume können zerschellen, wie die seitherigen Jahre unter den Ayatollahs zeigten. Aktuell ist eine neue Zeit der Hoffnung angebrochen, da ist Friederike Kretzen mit ihrem Buch ganz aktuell.
