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»Und die Toten lässt man ruhen!«

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Jürgen Kehrer ist der geistige Vater der legendären Wilsberg-Figur. © Christian Lugerth

Das Krimifestival befindet sich im Endspurt. Und auch für Autor Jürgen Kehrer stehen die Zeichen auf Veränderung. Mit seinem 21. Krimi um den Münsteraner Archivar Georg Wilsberg nimmt er Abschied von der Figur. Aus dem las der Autor nun vor.

In der Fragestunde, die sich an die höchst unterhaltsame Lesung Jürgen Kehrers aus seinem letzten Wilsberg-Roman »Sein erster und sein letzter Fall« anschloss, beantwortete der Autor den Einwurf eines Zuhörers, ob er sich das fast schon suchthafte Verhältnis der Deutschen zum Krimi in allen Formaten und Farben erklären könne, mit dem verschmitzten Einwurf, es handle sich bei diesem Genre wohl um die zeitgemäßen Märchen für den modernen Menschen.

Beamen wir uns also zurück ins Jahr 1990, da im deutschen Fernsehen vorrangig am Sonntagabend und dort hauptsächlich in München, Berlin oder Hamburg gemordet wurde und Krimileser sich mit britisch schrulligen Hobbyermittlerinnen oder amerikanisch coolen Detektiven in den Schlaf lasen. Da setzte der damalige Mitarbeiter eines alternativen Stadtmagazins in Münster - eben jener zum wiederholten Male beim Krimifestival gastierende Jürgen Kehrer - diese Stadt auf die Landkarte der deutschen Krimiliteratur mit seinem ersten Wilsberg-Roman »Und die Toten lässt man ruhen!«. Der Regionalkrimi ward geboren. Gut, leicht übertrieben, aber als einen der Pioniere in dieser Sache darf man Kehrer durchaus bezeichnen, heute, da es kaum noch eine Nordseeinsel, eine Mittelgebirgsregion, eine Stadt des Ruhrpotts oder all die pittoresken Berggegenden Bayern oder Tirols ohne Kommissare und/oder Ermittlerinnen gibt. Das Böse ist nun immer und überall. Und wird gerne gekauft, gesehen und gelesen.

»Sein erster und sein letzter Fall«

Zurück in den April 2022 und zu Kehrers Roman. Wilsberg will sich eine Hose kaufen, in einem Geschäft im Schatten der inzwischen bundesweit bekannten St. Lamberti-Kirche, und wird unversehens zur Geisel. Es stellt sich heraus, dass die Geiselnehmer unterwegs sind im Auftrag eines dubiosen Klienten Wilsbergs aus dem Jahre 1989. Der Privatdetektiv, damals noch ein von der linken Szene gerne frequentierter Rechtsanwalt, erinnert sich. Zu jener Zeit war er in der alternativen Szene Münsters hochgeschätzt. Und das Konto fragt einen Rechtsanwalt nun mal nicht nach Gesinnung. Allerdings machten seine Plädoyers mehr Eindruck bei den Unterstützern der Mandanten als bei den Richtern. Daraus können natürlich gewisse Interessenkonflikte erwachsen. Und wenn dann noch ein stadtbekannter Schlagzeuger Wilsberg bittet, das alternative Stadtmagazin in Münster mit einer Unterlassungsklage zu überziehen und am nächsten Tag die Liebe seines Lebens um die Ecke biegt? Dann muss die Assistentin - einst durfte jene noch Siggi genannt werden - den Laden übernehmen.

Kehrer springt mit lakonischem Humor zwischen dem Einst und Heute hin und her. War sein ehemaliger Mandant damals schuldig oder nicht? Früher Linksradikaler und heute Reichsbürger? Was hat er als junger Anwalt damals verbockt? Was konnte er nicht wissen? Hätte wissen sollen? Wie auch immer, so zitiert er aus seinem natürlich nicht zu Ende gelesenen Roman: »Gegenüber Leuten, die Maschinenpistolen in der Hand halten, sollte man sich mit Spitzfindigkeiten zurückhalten!«

Zuletzt fragte noch einer der begeisterten Zuhörer, ob Wilsberg denn nicht nur im TV, sondern auch in den Romanen überleben werde. Das wisse er nicht, antwortete der Autor, jetzt, da der Wilsberg im Fernsehen schon längst ein eigenes Leben lebe. Während Wilsberg in den Romanen halt älter werde, müsse der Wilsberg im Fernsehapparat seine ewige Jugend - und sei sie noch so alt - konservieren. Oder wie der erste Wilsberg-Roman hieß: »Und die Toten lässt man ruhen!« Das tut dieser Roman sehr souverän. Und lässt sie so weiterleben.

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