Hinter Zäunen mit Stacheldraht: Willkommen in Deutschland – „Wie im Gefängnis“

Wenig einladend nach der Flucht aus der Ukraine: Die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen in Gießen ist von Stacheldrahtzäunen umgeben.
Gießen – Die Buslinie 17 fährt vom Bahnhof bis zur Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH) in der Rödgener Straße. Und Geflüchtete, die an der Haltestelle Sophie-Scholl-Schule aussteigen, stehen vor einem rostigen Maschendrahtzaun an gebogenen Betonpfeilern, gekrönt von Stacheldraht. Willkommen in Deutschland.
Zugegeben, das ist etwas spitz formuliert. Aber man muss kein Gedankenleser sein, um sich vorzustellen, was für einen Eindruck dieses Bild auf ankommende Geflüchtete in Gießen macht. Als ich vor einigen Wochen vor der EAEH stand, betrat eine Ukrainerin das Gelände durch eines der großen Eisentore, blickte sich um und formulierte es so: »Wie im Gefängnis.«
Prekäre Situation in Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen
Und das ist nicht die einzige Kritik, die nach der Ankunft von Tausenden Ukrainern in den vergangenen zwei Monaten die Redaktion dieser Zeitung erreichte. Einiges kam per E-Mail, manches wurde direkt von ukrainischen Bewohnern gesagt, anderes stammt von ehrenamtlichen Helfern oder aus Telegram-Gruppen, in denen sich Ukrainer in Deutschland organisieren.
Es geht dabei um das Essen, um die medizinische Versorgung, lange Wartezeiten und ganz allgemein: die Lebensbedingungen in der Einrichtung. Bei einem geführten Rundgang durch die EAEH ließen sich diese Kritikpunkte nicht im Einzelnen überprüfen. Aber es wurde schnell deutlich, warum hier keiner freiwillig leben will. Und das liegt nicht an dem Bemühen der Mitarbeiter, sondern an dem Konzept der zentralen Unterbringung und den bürokratischen Abläufen.
Erstaufnahme Geflüchteter in Gießen: Das Gefühl, gefangen zu sein
Aber zurück zu dem Stacheldrahtzaun. Manfred Becker, der Leiter der Erstaufnahmeeinrichtung, gibt zu, dass das kein schöner Anblick ist. Der Zaun stamme noch aus Zeiten, als das Gelände von der US-Armee genutzt wurde. »Hier jetzt einen neuen grünen Zaun hinzubauen, würde viel Geld kosten«, sagt Becker. Und wesentlich besser wäre ein grüner Zaun im Vergleich zum Stacheldrahtzaun dann wahrscheinlich auch nicht.
Generell: Meterhohe Zäune sind auf der Anlage omnipräsent. Die unterschiedlichen Gebäudekomplexe sind davon umgeben, Betreten und Verlassen geht nur, wenn Sicherheitsmitarbeiter ein Tor öffnen. Becker erklärt, dass es bei den Zäunen nicht darum gehe, die Bewohner der EAEH gefangenzuhalten, sondern dass kein Unbefugter von draußen die Anlage betreten soll. »Ich bezweifele wirklich, dass sich die Menschen hier ohne die Zäune sicherer fühlen würden.«
Vielleicht würden sie das wirklich nicht, aber das Gefühl, gefangen zu sein, ist durch die Zäune und Schleusen fast nicht abzuwenden. Selbst als bloßer Besucher drängt es sich auf. Was dieses Gefühl noch verstärkt: Die Sicherheitsmitarbeiter. Sie sind überall, in jedem Gebäude von der Ankunftshalle bis zu den Unterkünften. Auf dem gesamten Gelände fallen die Menschen in ihren gelben Warnjacken auf. Im Umgang mit Bewohnern der Einrichtung habe ich sie immer als freundlich und hilfsbereit wahrgenommen.
Gießen: Sicherheitsmitarbeiter mit stichfester Sicherheitsweste
Dass es sich bei ihnen aber nicht nur um »nette Helfer« handelt, wird spätestens dann klar, wenn die gelben Jacken einmal zur Seite rutschen und man darunter bei manchen eine stichfeste Sicherheitsweste sieht. Was ist die Erstaufnahmeeinrichtung für ein Ort, dass so etwas nötig ist? Zäune zur Sicherheit der Bewohner, Mitarbeiter mit stichfesten Westen, und wenn man dann mal eine der Unterkünfte, eine Leichtbauhalle, betritt, verstärkt sich dieses ungute mulmige Gefühl noch.
Denn die einzelnen »Zimmer« dort sind wie Toilettenkabinen nach oben hin offen. Aber im Gegensatz zu Toilettenkabinen gibt es keine Türen, sondern bloß einen dünnen Vorhang zum Flur. Dort patrouillieren wieder zwei Sicherheitsmitarbeiter. »Rund um die Uhr«, wie Becker sagt. Vier Gitterbetten mit je zwei Etagen geben acht Menschen pro Raum Platz, dazu ein Metallspind pro Person und eine Biertischgarnitur. Über einem dröhnt die Lüftungsanlage. Einen Ort zum Runterkommen, zum Sicherfühlen stelle ich mir etwas anderes vor.
Man kann das alles natürlich erklären, die EAEH musste in kürzester Zeit Platz für sehr viele Menschen schaffen. Wie das alles auf einen wirkt, daran ändert die Begründung aber nichts. Mir wurden Fotos von einer ehemaligen Bewohnerin gezeigt, auf denen die Wände an einer Tee-Station völlig verdreckt sind, ein unappetitlicher Eimer, den niemand in seiner Wohnung stehen lassen würde, direkt daneben. Die Frau fragte mich: »Wer will sich hier etwas zu trinken nehmen?« Sie zeigte auch Fotos von Sanitärräumen, in denen der Putz von der Wand fällt, kaputte Wasserhähne und mehr. Bei meinem Rundgang durch die Einrichtung fällt auch in den Wartebereichen Dreck, Verpackungsmüll und Unordnung auf. Selbst der Leiter des Ankunftszentrums, Daniel Pöhland-Block, sagt bei dem Anblick: »Hier sieht es wüst aus.« Dabei werden die Räume zweimal am Tag gereinigt. Aber man kann sich vorstellen, wie die Bewohner mit Räumen umgehen, in denen sie nicht leben möchten.
Nach Flucht aus der Ukraine: Erstaufnahme Gießen mit stundenlanger Wartezeit
Es sind aber nicht nur die Gebäude, die ein ungutes Gefühl erzeugen - dieses »wie im Gefängnis« der Ukrainerin -, sondern der ganze Prozess, den die Menschen hier durchlaufen müssen. Auch dabei habe ich die Mitarbeiter als freundlich und ruhig wahrgenommen. Aber das kann nur bedingt darüber hinwegtäuschen, dass man sich während der Aufnahme wie ein Gefangener fühlen kann, wenn zwischen endlosen Wartezeiten die persönlichen Daten erfragt, biometrische Bilder angefertigt und Fingerabdrücke abgenommen werden: Erst vier Finger der einen Hand, dann von der anderen, dann jeder Daumen und dann noch einmal alle Finger einzeln abgerollt.
Beschwert werde sich aber in der Regel nicht darüber, sagt eine Mitarbeiterin. Nicht ganz unschuldig daran, wie die EAEH erlebt wird, sind sicher auch die langen Wartezeiten, die einen zermürben können. Pöhland-Block erklärt, dass Geflüchtete je nach Andrang schon einmal sechs Stunden alleine für die sogenannte Schnellregistrierung warten müssen. »Da liegen die Nerven dann blank.«
Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen: Kein geeignetes Essen für Kinder
Während des Wartens, die Geflüchteten haben da bereits oft eine lange Reise hinter sich, gibt es Wasser und Tee, Fladenbrote und Äpfel. Kein Wohlfühlessen, aber etwas, das den Hunger stillt. Nach der Registrierung werden die Geflüchteten von der Kantine versorgt. Eine junge Ukrainerin zeigte mir mal ihr Mittagessen: eine Styroporschachtel mit einem Hähnchenschenkel und Reis. Ganz okay, würde ich sagen. Aber ich bin auch ein Erwachsener, 30 Prozent der ankommenden Ukrainer sind jedoch Kinder, die beim Essen auch gerne mal etwas eigen sein können. So beschwerte sich auf Telegram jemand verzweifelnd, die laut eigener Aussage bereits mehrere Tage in der Erstaufnahme gewesen sei, dass es hier nichts gebe, was ihr Kind essen würde.
Bei alledem haben die Geflüchteten aus der Ukraine noch Glück: Höchstens 72 Stunden sollen sie in der Erstaufnahmeeinrichtung verbleiben, bis sie in die Kommunen verteilt werden. Für Geflüchtete aus anderen Ländern dauert der Aufenthalt wesentlich länger. Der Hessische Flüchtlingsrat stützte sich auf Angaben der Landesregierung, nach denen die durchschnittliche Verweildauer in der EAEH von sechs auf achtzehn Monate »durch eine bundesgesetzliche Änderung« gestiegen sei. Der Flüchtlingsrat bezeichnete diese Praxis als »Ausgrenzung durch Unterbringung«. (Sebastian Schmidt)
Der Landkreis Gießen bietet ab sofort eine Ukraine-Hotline für alle Anliegen rund um die Aufnahme und Unterstützung geflüchteter Menschen an, sowohl in ukrainischer als auch russischer und deutscher Sprache.