Terminnot in Gießen: Patienten müssen lange auf Physio-Hausbesuch warten

Patienten müssen in Gießen lange auf Physiotherapie warten. Richtig kritisch wird es bei Hausbesuchen. Einem 90-Jährigen wurde kürzlich eine Wartezeit von einem Jahr in Aussicht gestellt.
Gießen - Der alte Herr traute seinen Ohren nicht. »In einem Jahr können Sie sich wieder melden«, erklärte die Mitarbeiterin des DRK-Therapiezentrums am Philosophenwald. »Wir haben leider keine Kapaziäten«. Ein Jahr Wartezeit für einen 90-Jährigen? Hatte er etwas missverstanden? Nein, hatte er nicht. Der Patient hat zwar mittlerweile zeitnah einen Termin bekommen, da es im Tagesgeschäft immer wieder Absagen und Planänderungen gibt. Unter dem Strich bleibt jedoch ein massiver Missstand - nicht nur beim DRK, sondern generell. »Das ist leider ein strukturelles Problem«, sagt Alexander Mack vom Vorstand des DRK Mittelhessen. Das Jahr Wartezeit sei zwar eine bedauerliche Fehlinformation gewesen, aber einige Wochen könnten es schon sein. Ursache sei die Schieflage des gesamten Berufsstandes im Allgemeinen und die geringe Vergütung durch die Krankenkassen im Besonderen.
Auch in Gießen bei Physiotherapie Personalmangel und geringe Pauschale
Wie in jeder Branche macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar. Doch während man sich bei manchen Ausbildungsberufen wundert, warum der Nachwuchs ausbleibt, liegt es bei den Physiotherapeuten auf der Hand. Es ist noch nicht lange her, dass das Schulgeld abgeschafft wurde. Das bedeutet, die Nachwuchskräfte mussten ihren Lebensunterhalt finanzieren und zudem noch Mittel für das Ausbildungsinstitut mitbringen. Schulgeld gebe es zwar zum Glück nicht mehr, schildert Mack, aber in der Ausbildung verdienten die zukünftigen Physios kein Geld. Ohne Minijobs nebenher oder zahlende Eltern im Hintergrund könnten Interessierte es sich nicht leisten, diesen Beruf zu wählen. Rühmliche Ausnahme ist die Schule am UKGM, dort gibt es eine tarifliche Vergütung, die im ersten Jahr knapp 1000 Euro beträgt.
DRK: Kontrolle bei Hausbesuchen gibt es auch in Gießen nicht
Die examinierten Therapeuten, schildert Mack, verdienen im ersten Jahr knapp 3000 Euro, im zweiten etwas über 3000 Euro und nach zwei Jahren etwas über 3200 Euro. Bedenken müsse man, dass heute eine weitere Spezialisierung, z.B. in manueller Therapie, Craniosakraltherapie oder Osteopathie notwendig sei, um am Markt bestehen zu können. Diese Fortbildungen zahlten die Physiotherapeuten in der Regel selbst, was eine hohe finanzielle Belastung darstelle.
Auch in Gießen weiß man: Praxen versorgen vorrangig Stammkunden
Diese Begleitumstände führen zu einem Personalmangel in den Praxen. »Es gibt sogar Headhunter, die Mitarbeiter abwerben, das war vor einigen Jahren in der Branche noch völlig unüblich«. Vor dem Hintergrund wird deutlich, warum es zu Wartezeiten bei der Terminvergabe kommt, viele Praxen nehmen auch keine neuen Patienten mehr an, sondern versorgen vorrangig ihre Stammkundschaft.
Physiotherapeuten schließen Rahmenverträge mit den Krankenkassen ab, in denen die Leistungen geregelt sind. Darin enthalten ist auch die Verpflichtung, Hausbesuche zu übernehmen. Die Crux sei aber, dass die Anzahl nicht geregelt sei und auch keine Kontrollen stattfänden, schildert der DRK-Vorstand.
Kollegen des DRK-Therapiezentrums Gießen finden Situation unbefriedigend
Da die Vergütung alles andere als attraktiv sei, seien Hausbesuche (für die eine ärztliche Verordnung notwendig ist), tendenziell unbeliebt. Die Kassen zahlten zusätzlich zu den üblichen Therapieeinheiten eine Pauschale von etwa 20 Euro, was sich angesichts hoher Benzinpreise und der Zeit, die die Kollegen aufwenden müssten, nicht rechne. Es sei viel effektiver, mobile Patienten in der Praxis zu versorgen.
Selbst wenn mehrere Patienten auf einer Strecke angefahren würden, ändere sich das nicht wesentlich. Auch Hausbesuche in Pflegeheimen seien aus wirtschaftlicher Sicht nicht wirklich attraktiv, da dort die Pauschalen mit etwas über elf Euro deutlich geringer ausfielen. Hinzu komme der Zeitaufwand, der entstehe, wenn die hochbetagten Bewohner beim Besuch des Therapeuten gerade unpässlich seien.
Balance ist für Gießener Physiotherapeuten schwer zu finden
Nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Kollegen des Therapiezentrums sei die Situation unbefriedigend, verdeutlicht Mack. »Wir haben den Anspruch, unsere Patienten optimal zu versorgen, dazu gehört auch Zugewandtheit«. Die Rahmenbedingungen seien aber leider so, dass eine Physiotherapeutin, die ihrer Arbeit mit Leidenschaft und Kompetenz nachgehe, Gefahr laufe, über ihre eigenen Kräfte zu gehen. Mack: »Wir müssen eine Balance finden«.
Der 90-jährige Patient hatte inzwischen Besuch von seiner Physiotherapeutin, die Behandlung hat ihm gut getan. Gelöst ist das Problem damit aber nicht.