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Tarnnetze made in Gießen

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Von: Sebastian Schmidt

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An einem selbst gebauten Holzgestell knüpfen Ukrainerinnen mitten in Gießen Tarnnetze zusammen. © Oliver Schepp

Während in der Ukraine seit über einem Jahr der russische Angriffskrieg tobt, suchen ukrainische Frauen in Deutschland nach Möglichkeiten, zu helfen. In Gießen treffen sich Freiwillige bereits seit Monaten, um Tarnnetze zu knüpfen. Der Sichtschutz wird in der Ukraine nicht nur vom Militär verwendet. Auch zivile »Ziele«, wie Krankenwagen, werden damit versteckt.

Kleiderkisten, Lebensmittelpakete oder auch Geldüberweisungen - die ukrainische Community in Deutschland versucht, den Menschen in ihrem Heimatland auf vielen Wegen zu helfen. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine hat sich dort der Bedarf an Hilfsgütern immer wieder verändert, und die Frauen hier haben sich darauf eingestellt. Und so treffen sich Ukrainerinnen nun in einer Gießener Lagerhalle und knüpfen Tarnnetze. Um »unseren Männern zu helfen«, wie Marija Melnik (alle Namen von der Redaktion geändert) sagt, und zum Beispiel humanitäre Infrastruktur wie Krankenwagen zu schützen. Inspiration, Anleitung und Anregungen bekommen die Freiwilligen dabei direkt aus dem Krisengebiet.

Geländefotos geben Farben vor

Kateryna Kulyk sitzt hinter einem Tisch und trennt mit einer Schere Knöpfe von einem grau-gestreiftem Hemd ab. Die Knöpfe lässt sie anschließend in einem kleinen Pappkarton verschwinden, dann breitet die Ukrainerin das Hemd auf dem Tisch vor sich aus und beginnt den Stoff in etwa drei Zentimeter breite Bahnen zu schneiden. Diese Bahnen landen schließlich grob nach Farbe sortiert auf Haufen: Schwarz, Grau, Grün, Ocker.

Was Kulyk da macht, sieht geübt aus, und das ist es mittlerweile auch. Denn bereits seit Monaten treffen sich hier fast täglich zwischen vier und zehn Ukrainerinnen und stellen in zeitaufwendiger Handarbeit Tarnnetze her, wie Ana Olyinyk erklärt.

Wenige Meter von den Stoff-Haufen entfernt sind drei Ukrainerinnen damit beschäftig, einzelne der Stoffbahnen - immer in abwechselnder Farbe - in Schlangenlinien um ein schwarzes Netz zu führen, das an einem selbst gebauten Holzrahmen befestigt ist. Stoffbahn wird dabei an Stoffbahn geknotet, bis ein fertiges Tarnnetz entsteht.

»Wir müssen beim Knüpfen darauf achten, dass sich dabei keine größerenn Lücken bilden«, erklärt Melnik. Die Tarnnetze knüpfen die Frauen dabei entweder in drei mal fünf oder auch in sechs mal zehn Metern Größe. Wie groß genau sie sein sollen und auch, welche Farbtöne dafür benutzt werden, bekommen die Frauen von »unseren Männern« aus der Ukraine mitgeteilt. Mit »unseren Männern« meint Melnik nicht nur Ehepartner, sondern auch »Freunde, Nachbarn und Bekannte«, die noch im Kriegsgebiet leben. Von denen erhalten die Ukrainerinnen zum Beispiel Geländefotos, die die Frauen benutzen, um die Farben der Tarnnetze zu bestimmen. »Im Winter waren die Netze oft mit Weiß, weil Schnee gelegen hat, jetzt mehr mit Grün«, sagt Olyinyk.

Video-Anleitung für die Gießenerinnen

Melnik ist selbst vor dem Krieg nach Gießen geflohen, Olyinyk lebt und arbeitet schon seit Jahren im Landkreis. Beide engagieren sich in der ukrainischen Community, sammeln zum Beispiel Kleider- oder Spielzeugspenden für die Geflüchteten. Auf die Idee mit den Tarnnetzen sind sie durch Frauen in der Ukraine gekommen. »Dort machen sie das überall«, sagt Melnik. »Und wir wollen auch helfen.« Sie haben deswegen mit einer Frau in der Ukraine gesprochen, die den Gießenerinnen schließlich eine Video-Anleitung erstellt habe, wie man die Tarnnetze selbst knüpfen kann.

Neben Tarnnetzen stellen die Frauen zum Beispiel auch improvisierte Sturmlichter her. Die werden wegen der häufigen Stromausfälle in fast jedem Haushalt gebraucht. Dazu füllen die Ukrainerinnen leere Konserven mit Pappe und gießen die Dosen mit geschmolzenem Wachs auf, erklärt Melnik. Die Frauen sammeln außerdem Schlafsäcke oder Isomatten für die Menschen im Kriegsgebiet. All das werde mit Reisebussen persönlich in die Ukraine gebracht »und dort dann mit der Post weitergeleitet.«

An Motivation und Durchhaltevermögen mangelt es den ukrainischen Frauen dabei nicht - aber die Materialien werden langsam knapp. Melnik sagt: »Wir brauchen viel mehr Baumwollstoff, vor allem in Grün, Schwarz und Grau.« Aber auch daran verzweifeln die Frauen nicht, sondern suchen nach einer pragmatischen Lösung, wie Melnik sagt: »für unsere Männer«.

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