Sympathie für illegale Aktion

50 Jahre ist es her, dass in Gießen erstmals ein Haus besetzt wurde. Viele Bürgerinnen und Bürger verfolgten die friedliche Aktion mit Wohlwollen. Das änderte sich später, als Hausbesetzungen mitunter in Gewalt ausarteten.
Erste Hausbesetzung in Gießen! Die Schlagzeile der GAZ weckt im Oktober 1971 gemischte Gefühle bei der Leserschaft. Droht Randale wie in Frankfurt? Andererseits: Allzu viele Häuser stehen jahrelang ungenutzt leer, während Wohnraum knapp ist. Dieser Zwiespalt spiegelt sich in der Berichterstattung.
Die ganze erste Lokalseite widmet die Zeitung vor 50 Jahren den Studierenden, die auf eigene Faust vier Wohnungen im Gebäude Bahnhofstraße 33 bezogen haben. Zweifellos ist das ein »rechtswidriger Akt«, wie Magistrat und Hausbesitzer betonen. Doch daneben klingt Sympathie durch für diese neue Art, auf ein allgemein drängendes Problem aufmerksam zu machen.
Der Wohnungsmangel und die hohen Mieten glichen einem »zweiten Numerus Clausus«, erklärt der Rektor der Justus-Liebig-Universität, Paul Meimberg. 420 junge Männer und Frauen verzichteten deshalb auf ihren Studienplatz im Wintersemester 1971/72.
Etliche Normalbürger suchen ebenfalls vergeblich eine bezahlbare Bleibe. Und auch in deren Namen fordern die Haubesetzerinnen und Hausbesetzer, zum Abbruch vorgesehene Gebäude vorübergehend weiter zu vermieten. »Allein 1500 Familien als Dringlichkeitsfälle registriert«, steht auf einem Transparent, das sie aus dem Fenster hängen.
Gerade hat im Frankfurter Westend eine erste gewaltsame Räumung für Aufsehen gesorgt. Die Polizei setzte Tränengas und Gummiknüppel ein, die Besetzer warfen Flaschen. Die Gießener Hausbesetzer-Pioniere dagegen erweisen sich als friedlich. Sie unterstreichen, dass sie bereit sind, Miete zu zahlen. Die GAZ berichtet: »Die nach kurzer Zeit eintreffende Polizei verhielt sich nach den Worten eines ›Besetzers‹ sehr freundlich gegenüber den jungen Leuten und habe sogar drei von ihnen im Streifenwagen zur Stadtverwaltung gebracht, wo sie mit den ›zuständigen Herren‹ verhandeln wollten.«
Es folgen Solidaritätsbekundungen: Unter anderem der Uni-AStA, Schülervertretungen und SPD-Gruppierungen verweisen auf die im Grundgesetz verankerte Mahnung »Eigentum verpflichtet«.
»Hausbesetzung auch in Gießen ein Zeichen der Zeit«, ist die GAZ-Wochenendkolumne überschrieben. Der Leiter der Lokalredaktion sieht »ein gewisses Verständnis in der Öffentlichkeit«. Nötig seien »vernünftige Regelungen« für die zahlreichen Häuser, die »seit Jahren zerfallen und das Bild der Innenstadt verschandeln«. Nach zwei Wochen, Anfang November 1971, gibt die Stadt bekannt, sie sei bereit, ihre leerstehenden Immobilien bis zum Abbruchbeginn an Studierende zu vermieten.
Damit verläuft die erste Gießener Hausbesetzung offenbar im Sande. Doch es wird nicht die letzte bleiben (mehr im Kasten). Und sie wirkt nach bis in die Mitte der Gesellschaft.
Mit Streifenwagen ins Stadthaus
Eine »Bürgerinitiative für menschlicheres Wohnen« gründet sich und ruft mitten im Beton-Bauboom ein Bewusstsein für den Wert historischer Gebäude wach. Dauer-Leerstände werden seltener: Die Bevölkerung beäugt sie kritisch. Eigentümer fürchten Hausbesetzungen. Das dräuende »Schreckgespenst« dient allerdings mitunter zur Rechtfertigung plötzlicher Abbrüche, etwa 1981 auf dem »Samen-Hahn«-Grundstück. Dieses bleibt bis heute ein Mahnmal, das deutlich macht: Die Debatte über Wohnraum und Immobilienspekulation ist bis heute aktuell.
Das einst dort gegenüber gelegene Haus Bahnhofstraße 33 existiert schon lange nicht mehr. Es fällt zusammen mit vielen anderen Gebäuden dem 1978 eröffneten City-Center zum Opfer.