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»Störungsfläche« und Denkanstoß

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Der »Planetary Forest« im Botanischen Garten. © Heiner Schultz

Ein neues künstlerisch- wissenschaftliches Projekt, die Skulptur »Planetary Forest«, bringt jetzt »fremde« Natur in den Botanischen Garten: Erdreich, Totholzteile und Baumstümpfe aus dem Forst Rosbach vor der Höhe. Was so an Mikroorganismen oder Samen auch noch den Weg nach Gießen fand, will und wird man sehen. Nicht nur die Leiter des Gartens wollen erstmal drei Jahre lang aufmerksam zuschauen.

Zunächst mal sieht man ein umrahmtes Rechteck, in dem allerlei totes Gehölz liegt, Äste, Zweige und ein mulchähnlicher Bodensatz, teilweise überzieht Moos die Oberflächen. Das alles stammt aus einer sogenannten Störungsfläche, einer Fläche im Wald, auf der etwa der Borkenkäfer dem Baumbestand den Garaus gemacht hat. »Insofern gibt es hier jetzt auch eine Störungsfläche«, sagte Claudia Hartl, Dendrochronologin (Jahresringforscherin) und Geografin, die gemeinsam mit Mathias Kessler und Clemens Finkelstein, Fellows am Panel on Planetary Thinking der Justus-Liebig-Universität, im Team der Macher arbeitet. »Ich wollte an den Ringen der Bäume ihr Leiden dokumentieren. Es war auch schon immer mein Wunsch, performative Aktionen zu machen und ein Stück Wald, ›eine soziale Struktur‹ in die Stadt zu bringen.« Denn toten Wald gebe es in ganz Deutschland, sagte Hartl, besonders eben bei den Fichten, die gewöhnlich nicht in ihrem natürlichen Lebensraum, dem Hochwald, angesiedelt sind und daher leicht Opfer von Schädlingen und Trockenheit würden. »Bäume verständigen sich übrigens durch Vibrationen«, sagte sie. Das ist das Fachgebiet von Clemens Finkelstein, Doktorand an der Princeton University. Er zeigt Ergebnisse seiner Arbeiten im Kiosk des Neuen Kunstvereins.

Prof. Claus Leggewie, wissenschaftlicher Direktor des Projekts, dankte den Vertretern des Botanischen Gartens, Holger Laake (technischer Leiter) und Prof. Volker Wissemann (wissenschaftlicher Leiter), für ihre höchst kooperative Mitarbeit am Projekt und dem Unipräsidenten für die Oberaufsicht. In bester wissenschaftlicher Tradition zeigten sich die »Botaniker« ganz offen für die ungewöhnlichen Ideen der Wissenschaftler und Künstler.

Polarlandschaft im Kunstkiosk

Ungewöhnlich sind auch die Ideen von Mathias Kessler. Der in Brooklyn (New York) und im Vorarlberg lebende Künstler beschäftigt sich in seinen Arbeiten intensiv mit dem Naturbegriff, kritisiert diesen und interpretiert ihn neu. Mit seinen Werken stellt er herkömmliche Vorstellungen und Darstellungsweisen der Natur infrage. Er und die anderen Mitglieder des Teams suchen nach neuen ästhetischen Formen, um ein anderes Bewusstsein für die natürliche Umwelt zu schaffen und die Möglichkeiten des Erlebens und Denkens zu erweitern. Im Kunstverein zeigt Kessler eine zwar kleine, aber reizvolle Polarlandschaft, für die »Das Eismeer« von Caspar David Friedrich Vorbild war. Zu sehen im Kühlschrank im Kiosk, mit Eis und Raureif.

Aufgabe für die Wissenschaftler war, sich etwas auszudenken, das das Denken im Weltmaßstab fördert. Anhand des im Roßbacher Wald gesammelten Materials schuf man für den Botanischen Garten das Rechteck mit den biologischen Fundsachen. Zeitgleich sind im Neuen Kunstverein künstlerische Beiträge zum Projekt zu sehen. Das Inventar dort wird bis auf Weiteres permanent ergänzt.

Universitätspräsident Joybrato Mukherjee sagte, hiermit sei ein Traum in Erfüllung gegangen, nämlich in Gießen Artists in Residence einzurichten, und er warf die Frage auf, ob der Botanische Garten sich diese Fläche »vielleicht zurückerobern« wolle. Ausgeschlossen ist das nicht, denn die dort gedeihenden Pflanzen geben auch Samen ab. Wenn ein paar davon in das planetarische Rechteck fallen, könnte dort theoretisch ein Abkömmling des in der Nähe wachsenden japanischen Ahorns das Licht der Welt erblicken. Das ergäbe eine interessante wissenschaftliche Lage: Dürfte er bleiben oder müsste er das Feld räumen?

Der Planetary Forest ist zunächst drei Jahre im Botanischen Garten zu den üblichen Öffnungszeiten zu sehen; die Schau im Kiosk des Kunstvereins bis auf Weiteres.

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