Steine gegen das Vergessen

Gießen (lea). Vor der Walltorstraße 32 befindet sich seit dem 2. Februar ein neuer Stolperstein, der an die jüdische Familie Wohlgeruch erinnert, die einst dort wohnte. Schülerinnen und Schüler der Ricarda-Huch-Schule gestalteten anlässlich der Verlegung des Steins ein Begleitprogramm.
Bereits am Vortag waren zwei Nachkommen der Familie Wohlgeruch - Aliza Cohen-Mushlin (85) aus Jerusalem und Peter Schuller (65) aus Edinburgh - in die Ricarda-Huch-Schule gekommen. Zunächst wurden sie von sechs Schülern der 7b durch das Gebäude geführt. Erste Station war eine Gedenktafel mit ehemaligen jüdischen Schülerinnen, die während der NS-Diktatur ermordet wurden. Schwarz-Weiß-Fotos und Kurzbiografien der ermordeten Mädchen halten die Erinnerung an sie wach.
Stolpersteine sind nicht allen bekannt
Als nächstes führen die Schüler ihre Gäste vor die Schule. Dort sind mehrere Stolpersteine in den Boden eingelassen. »Zum 9. November werden sie immer geputzt und mit Rosen geschmückt«, erklärt eine der Schülerinnen. Cohen-Mushlin fragt nach, ob sich die Schüler bereits vorher mit der Zeit des Nationalsozialismus in der Schule beschäftigt haben. »Am Marktplatz haben wir Leute befragt, ob sie die Stolpersteine kennen«, erzählt eines der Mädchen. Den meisten sei das Konzept hinter den Stolpersteinen nicht bekannt gewesen. Auch hätten sie zur Person Anne Franks gearbeitet und ein Konzentrationslager in Frankreich besucht.
»Ich bin ganz gerührt«, sagt Cohen-Mushlin. »Meine Mutter bekam kein Visum für Jerusalem, weil sie Ostjüdin war«, erzählt sie den gespannt zuhörenden Mädchen. »Hat sie überlebt?«, fragt eine nach. »Ja«, sagt Cohen-Mushlin. Immer wieder wenden sich Schuller und Cohen-Mushlin mit Nachfragen an die Schüler, die gerne Rede und Antwort stehen: »Wie alt ist man, wenn man auf diese Schule kommt?« oder »In welchem Teil der Schule ist man zu Beginn?«
Schließlich trifft die Gruppe auf die übrige Klasse in der Bibliothek. Geschichtslehrer Christian Schmidt führt in das Gespräch ein: »Zunächst haben wir uns überlegt, ob Siebtklässler schon fähig sind, etwas über die Shoah zu lernen und sie zu verstehen.« Nun sind sie klüger: »Es gibt keine gute oder schlechte Zeit, etwas über das Thema zu lernen - es gibt nur Zeit«, sagt er.
Für das folgende Gespräch haben die Schüler Fragen vorbereitet. »Arbeiten Sie noch?«, fragt einer. Die 85-jährige Cohen-Mushlin erklärt, dass sie noch immer als Professorin am Zentrum für Jüdische Kunst der Hebräischen Universität von Jerusalem tätig ist. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, jüdische Kunst zu dokumentieren. Schuller kümmert sich in seinem Ruhestand um einen autistischen Jungen. Früher war er im Tourismus tätig.
»Was denken Sie über die Stolpersteine?«, lautet eine weitere Frage. Cohen-Mushlin gefällt die Idee der Steine sehr gut. In Deutschland hätte es einmal viel deutsch-jüdische Kultur gegeben. »Die Stolpersteine können die Erinnerung daran wiedergeben«, sagt sie.
»Ich finde das Konzept ganz toll«, antwortet Schuller. In einem Museum könne nur eine Minderheit vom Schicksal der Juden erfahren. »Auf dem Gehweg kann man sie nicht übersehen, sie fallen auf«, sagt er. Man könne dann mehr dahinter entdecken.
Bereits im letzten Jahr hatten sich die Schüler näher mit dem Thema »Stolpersteine« auseinandergesetzt. Im Dezember nahmen sie drei Tage lang an der deutsch-französischen »Werkstatt Erinnerung« teil, die Schmidt gemeinsam mit Klassenlehrer Paul Lambeck und Co-Klassenlehrerin Alexandra Keller organisierte. Die Siebtklässler, die seit Schuljahresbeginn Französisch lernen, arbeiteten mit Schülern aus Straßburg zusammen. So gab es eine Rallye zum Europaparlament, Ausflüge zu Universität und Theater sowie Sprachanimationen.
Beklemmender Besuch im KZ
Außerdem hätten die Gießener Schüler den französischen Projektpartnern die Funktion von Stolpersteinen erklärt, die diese vorher nicht gekannt hätten. Besonders beklemmend war für die Schüler der Besuch im KZ Natzweiler-Struthof. »Es war sehr kalt, wir waren angezogen und sind trotzdem fast erfroren«, sagt eine Schülerin. Dann wurden ihnen die dünnen Leinenhemden gezeigt, die damals den Juden zur Verfügung standen, was die Kinder sehr schockierte.