Staunen
Mary, das Mädchen aus dem Buch »Leises Schlängeln« der schottischen Schriftstellerin A.L. Kennedy, hat einen kleinen Garten. »Es konnte den Garten mit genau sechs großen Schritten der Breite nach und mit zehn großen Schritten der Länge nach durchschreiten. An manchen Nachmittagen machte sie winzige kleine Schritte, wodurch der Garten doppelt so groß und noch viel schöner wirkte.
« Mary hat meine Schüler und mich angeregt, es genauso zu machen. Wir schauen uns unsere Welt in kleinen Schritten an. Wir haben Übungen des Staunens verabredet.
Dabei haben wir ganz neue Erfahrungen gemacht: »Ich setze mich zwischen unsere Kühe und genieße die Ruhe, die sie ausstrahlen«, erzählte eine Schülerin. »Wie gut es im Wald riecht, wenn ich am Morgen zur Schule radele!«, nahm ein Schüler wahr. »Mich haben meine afghanischen Nachbarn zum Essen eingeladen. Eine Wohnzimmerweltreise! Ich habe gestaunt, dass ich einfach ein paar Schritte ins Nachbarhaus gehen und mich wie in Afghanistan fühlen kann.« »Wusstet ihr, dass Kürbisblüten ganz herrlich duften?«, fragte eine junge Frau. Eine andere hatte für uns die Entwicklung einer Mohnblüte auf Fotos eingefangen.
Was haben unsere Staunübungen mit Religionsunterricht zu tun? Das Staunen sei der Ursprung aller Religionen, sagt Navid Kermani, Muslim und deutscher Gelehrter. »Stimmt das?«, überlegen wir gemeinsam. »Wir entdecken die Wunder Gottes«, meint ein junger Mann. Eine andere Schülerin formuliert es vorsichtiger: »Ich stelle fest, dass mich das Staunen glücklicher und ruhiger macht«.
Mögen Sie in diesen schwierigen Zeiten staunend und in kleinen Schritten die Schönheiten dieser Welt entdecken, all die Wunder, die Gott uns schenkt!
Beate Allmenröder
Schulpfarrerin in Gießen