Stadtrundgang der besonderen Art

Gießen (bf). Unzählige Gruppen hat Peter Meilinger bereits durch Gießen geführt. Diesmal dürfte der Rahmen aber auch für den erfahrenen Stadtführer ein besonderer gewesen sein. Seine Gäste saßen zur Abwechslung mal den ganzen Abend und schauten ihn durch eine zweifarbige Pappbrille an. Unter dem Titel »Eintauchen in das alte Gießen« hatten Interessierte am Donnerstagabend im Oberhessischen Museum die Möglichkeit, ihre Heimatstadt auf ungewohnte Weise in 3-D zu entdecken.
Von der zweiten in die dritte Dimension
Michael Dahl, leidenschaftlicher Sammler alter Bilder Gießens, hatte zu einem 3-D-Fotoabend eingeladen. In mühevoller Arbeit hatte er aus 170 Einzelbildern 85 dreidimensionale Bilder erstellt. Dabei müssen zwei Bilder mit dem gleichen Motiv aus leicht versetzter Perspektive zu einem Bild zusammengefügt werden, erklärte der Experte. Aber weil der Fundus an historischen Fotos längst vergangener Zeiten überschaubar ist, sei es schwer gewesen, geeignetes Bildmaterial zu finden. Bis zu zwanzig Jahre liegen deshalb zwischen den einzelnen Aufnahmen, die Dahl für seine Schau zusammengestellt hat. Das, was zwischen den beiden Bildgrundlagen nicht übereinstimmt - vornehmlich bewegliche Elemente wie Menschen, Fahrzeuge oder Fahnen - musste er am Computer entfernen. Das ist nötig, damit sich am Ende ein übereinstimmendes 3-D-Bild ergibt.
So begann die historische Stadtführung beim Bahnhof. Sie ging, gespickt von Anekdoten des Stadtführers Meilinger, über das Klinikareal hin zu Marktplatz, Schloss und sämtlichen weiteren Sehenswürdigkeiten der alten Universitätsstadt. Allerlei Wissenswertes konnte das Publikum dabei erfahren. Vor allem aber sehen, wie sich Gießen im präsentierten Zeitraum - die Fotos reichten von 1870 bis 1941 - selbst wandelte. So etwa ein Vordach des Bahnhofs, das heute nicht mehr existiert. Der Turm der neuen katholischen Kirche, der auf manchen Fotos noch nicht errichtet war. Alte Kaufhäuser, nur noch dem Namen nach geläufige Gasthäuser und nicht zuletzt das Alte Schloss selbst, in dem der Bilderabend stattfand: Mal waren es Details, die das Interesse erweckten, mal sorgte der Panoramablick auf die einstige Schönheit der Stadt für Staunen.
Im Lockdown entstanden
Mitunter sei es schwierig gewesen, verrieten die beiden Gastgeber, den genauen Standort eines Fotos zu bestimmen. Erst der Blick auf alte Stadtpläne habe weiterhelfen können. Es entstand auch ein reger Austausch mit dem Publikum, das interessiert nachhakte und selbst Anekdoten zum Besten gab. Auch eigene Vermutungen über den genauen Ausgangspunkt einzelner Fotografien stellte es an. Das Projekt nahm mit dem ersten Lockdown 2020 seinen Anfang. Emsige Archivarbeit und stundenlange Optimierungen am Computer folgten.
Dahls Leidenschaft für Fotografien soll dagegen noch deutlich älter sein und begleitet ihn schon seit der Kindheit. Es fing mit alten Ansichtskarten an, die er von seiner Großmutter erhielt. Die Früchte seiner Arbeit konnten nun im Oberhessischen Museum bestaunt werden. Für diese besondere Führung gab es langen Applaus.