Stadt geht von Umplanungen aus
Der Fund der Überreste der »Neuen Synagoge« an der Südanlage bewegt und interessiert viele Gießener. Wie kam es zu dem Fund? Was wurde gefunden? Was bedeutet die Grabung für den Umbau der Kongresshalle? Und wie soll es jetzt weitergehen? Die Stadt gibt darauf Antworten.
?Was geschah am Morgen des 10. November 1938 in Gießen?
Beim Judenpogrom im November 1938 brannten am Vormittag des 10. November die beiden Synagogen in der Südanlage und in der Steinstraße, angezündet von Männern, die der SA angehörten, darunter auch Akademiker. Ihre Uniformen trugen sie aber nicht, um der Brandstiftung den Schein der »berechtigten Entrüstung unserer Volksgenossen« zu geben, berichteten die Zeitungen. Lehrer der benachbarten Schulen führten ihre Schüler zu den Brandorten. »Brandschutz« leisteten als Mittäter die Männer der Feuerwehr, die den Brand hätten löschen können, aber nur die Nachbarhäuser bespritzten. Opfer von Diebstählen und Flammen wurden die Inneneinrichtungen und Kultgegenstände. Die Brandstiftungen waren begleitet von einer Verhaftungswelle unter der jüdischen Bevölkerung. Sie wurde in den örtlichen Zeitungen so dargestellt, als hätten sich diese Menschen »freiwillig in Schutzhaft begeben«. Geschäfte wurden demoliert und geplündert. (Quelle: »Heimatgeschichtlicher Wegweiser«, 1996)
?Was weiß man über die Tage nach der Zerstörung und den Umgang mit den Überresten?
Der NSDAP-Reichsstatthalter für Hessen hatte befohlen, dass die Reste der beiden Gießener Synagogen an der Südanlage (damals Hindenburgwall) vollständig beseitigt werden müssen. Wenige Tage nach dem Brand ließ die Stadtverwaltung die Grundmauern sprengen und den Schutt abtragen, an dem zahlreiche Gießener für Auffüllarbeiten Interesse hatten. Weiterer Brand- und Bauschutt, der in den Kellerräumen lag, wurde an Ort und Stelle belassen, und die Fläche wurde offenbar einfach planiert. Die Kosten der Trümmerbeseitigung wurden der israelitischen Religionsgemeinde in Rechnung gestellt.
?Was ist über die Nutzung des Grundstücks nach der Zerstörung der Synagoge bekannt, auch in der Nachkriegszeit?
Unmittelbar nach Kriegsende wurde eine Baracke für Ausgebombte errichtet, deren Fundamente direkt auf die Mauerzüge der Synagoge aufgesetzt waren und im Zuge der aktuellen Ausgrabung dokumentiert und entfernt wurden.
?War der Fund eine Überraschung oder hatte man angesichts der Lage der Baustelle vor der Kongresshalle damit gerechnet, auf Reste der »Neuen Synagoge« zu stoßen?
Da die Lage der »Neuen Synagoge« bekannt war, waren die Untere Denkmalschutzbehörde und das Landesamt für Denkmalpflege von Anfang an in die Planung involviert. Der große Umfang und der gute Erhaltungszustand der Funde waren aber auch für die Archäologen eine Überraschung.
?Was ist am Grabungsort bis jetzt gefunden worden?
Bei den Bauarbeiten an der Kongresshalle sind komplette Mauerzüge des Kellers ans Tageslicht gekommen. Der gesamte mittlere Bereich der 1867 eingeweihten und 1892 erweiterten Synagoge konnte freigelegt, untersucht und dokumentiert werden. Im Schutt, der den Keller des Gebäudes völlig ausfüllte, konnten aufgrund der sorgfältigen Arbeit der Archäologen unter Leitung der Unteren Denkmalschutzbehörde noch Reste von Gebetbüchern und Ledereinfassungen in hebräischer Schrift gefunden werden. Diese Zeugnisse des einstigen blühenden jüdischen Lebens wurden geborgen und befinden sich in der Restaurierungswerkstatt des Landesamtes für Denkmalpflege in Wiesbaden. Die Grabungsfirma fand zudem durch den Brand deformierte Nägel, Schrauben, Beschläge und Lampenschirme aus Metall, die im Boden eingeschmolzen sind.
?Wo befand sich die Mikwe, das Ritualbad, das es eigentlich in jeder Synagoge gab?
Nach aktuellem Erkenntnisstand befand sich die Mikwe nicht in der Synagoge, sondern im Gemeindehaus auf demselben Grundstück an der Lonystraße. Das Gemeindezentrum blieb bei dem Pogrom unzerstört, wurde aber in den 1960er Jahren abgerissen.
?Wird die Grabung auf der Freifläche in Richtung Südanlage fortgesetzt, um nach Resten des Vorderbaus zu suchen?
Eine Ausweitung der Grabungsfläche ist aktuell nicht geplant. Sollten sich im anschließenden Bereich weitere Teile des Gebäudes befinden, sind diese im Erdreich geschützt und aktuell nicht durch die Bautätigkeit an der Kongresshalle gefährdet.
?Beim Bau der Kongresshalle in der ersten Hälfte der 1960er Jahre muss man eigentlich bereits auf die Überreste der Synagoge gestoßen sein. Warum ist darüber nichts bekannt?
Im Zuge des Baus der Kongresshalle wurden nicht nur Teile der Mauerzüge der Synagoge freigelegt, sondern diese sogar beschädigt und teilweise abgetragen, um Rohrleitungen in den Boden einbringen zu können. Warum über diesen Fund keine Meldung erfolgte, bleibt Spekulation.
?Wie gehen Stadt, Stadthallen GmbH und Landesdenkmalpflege jetzt weiter vor, was den Umgang mit dem Fund betrifft?
Aktuell stimmen sich die beiden Abteilungen der Boden- und Baudenkmalpflege des Landesamtes für Denkmalpflege miteinander ab. Ebenso stehen die Fachplaner des Architekturbüros, die Untere Denkmalschutzbehörde, die Gremien der Stadt, die SHG als Bauherr sowie die jüdische Gemeinde in Kontakt, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Da sich die aktuelle Situation erst vor wenigen Wochen eingestellt hat, wird es noch dauern, bis eine Entscheidung getroffen werden kann. In Teilen wird es wahrscheinlich zu Umplanungen kommen.
?Was bedeutet der Fund für die Erweiterungsarbeiten an der Kongresshalle?
Aktuell ruhen die Arbeiten an der geplanten Erweiterung des Foyers. Diese werden wiederaufgenommen, sobald das weitere Vorgehen abgestimmt ist.
Führungen: An zwei März-Wochenenden gibt es Führungen am Grabungsort. Sie finden am Samstag, 4. März, um 11 und 13 Uhr und am Sonntag, 12. März, um 11 und 13 Uhr statt. Treffpunkt ist jeweils der Haupteingang der Kongresshalle. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
Die Stadt bittet darum, die Baustelle nicht auf eigene Faust zu betreten.