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Spiel mit Privilegien und Fragezeichen

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Von: Barbara Czernek

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Das Leid der Welt hinausschreien: Davíd Gavíria. © Barbara Czernek

Gießen (bac). »Privilegien« werden von vielen unbewusst gelebt, als selbstverständlich hingenommen. Seinen eigenen, höchst persönlichen Blick darauf warf Ensemblemitglied Davíd Gavíria am Sonntagabend im Kleinen Haus des Stadttheaters mit seiner Solo-Performance »Call in [Call out]«.

»To call in« bedeutet so viel wie »bei jemandem vorbeischauen«; »call out« hat die Bedeutung von »ausrufen«, »moralisierend zur Rede stellen«, anprangern. In diesem Spannungsfeld versuchte Davíd Gavíria sein eigenes Statement zu setzen. Im nackten Bühnenraum waren nur er, ein Mikrofon und etliche neugierige Zuschauer, die er nach und nach in sein Spiel mithineinzog.

Gavíria, Jahrgang 1997, ist seit dieser Spielzeit Ensemblemitglied am Stadttheater. Er wuchs in Bogotá (Kolumbien) auf und kam mit 17 Jahren nach Europa. Seine Mutter war die erste innerhalb ihrer Familie, die studieren durfte, und ermöglichte ihrem Sohn, sich in diversen Sport- und Spielarten zu versuchen. Ihm war und ist bewusst, wie sehr er privilegiert war, dass er dies ausprobieren konnte. Gavírias Liste war lang, die er mit ungeheurem Tempo dem Publikum entgegenschleuderte, spielerisch zwischen Spanisch, Englisch und Deutsch hin- und herwechselnd.

Er ist ein südamerikanisches Energiebündel mit viel feinem Sprachgefühl. Alles was er liebt und zugleich auch hasst ruft er den Zuschauern entgegen, nimmt sich kaum Zeit Luft zu holen und spiegelt zugleich die Ambivalenz vieler Gefühle wider. Den Untergang der Welt will er mit einem eigenen Lied ausdrücken, das nur aus einem langanhaltenden, lauten Schrei der Verzweiflung besteht. Die Assoziation zu Edvard Munchs Gemälde »Der Schrei« drängt sich beklemmend auf.

Gemeinsame Salsa-Lektion

Doch ganz allein wollte der Künstler im Bühnenraum nicht bleiben: Er forderte das Publikum auf, mit ihm das »Privilegien-Spiel« zu spielen. Jeder bekam einen fiktiven Charakter, in den er sich hineinversetzen sollte. Anschließend wurden Fragen dazu gestellt. Wer diese mit »ja« beantworten konnte, durfte einen Schritt nach vorne gehen. Zum Schluss blieben nur vier Personen übrig, die sich der Frage stellen mussten, wie privilegiert sie sich jetzt fühlten. Diese Fragezeichen wurden nicht aufgelöst, sondern durch eine gemeinsame Salsa-Lektion für alle geglättet. So spontan und unvermittelt die Performance auch begann, so schnell und abrupt endete sie nach knapp 40 Minuten: Noch ein Salsa-Tänzchen mit allen, dann der ernüchternde Aufruf: »Danke, das war’s«, der das Publikum und Mitspieler doch etwas ratlos zurückließ, aber zu weiteren Diskussionen unter den Zuschauern anregte.

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