Sorgen um die Heimat

Lyubomyr Lytvynchuk ist seit sechs Jahren Gießener. Mit seiner Frau hat sich der stellvertretende Direktor der Augenklinik hier ein Zuhause geschaffen, die gemeinsame Tochter ist in der Stadt an der Lahn geboren. Lytvynchuk selbst ist in der Ukraine auf die Welt gekommen. Und das, was derzeit in seinem Heimatland passiert, ist für den 44-Jährigen nur schwer zu ertragen.
Lyubomyr Lytvynchuk steigt die Treppen der Augenklinik empor. Seine Schultern hängen durch, als würden schwere Gewichte auf ihnen lasten. Der stellvertretende Direktor der Augenklinik wirkt in diesen Tagen wie ein Schatten seiner selbst. »Ich bin paralysiert«, sagt er, »diese Hilflosigkeit ist schwer zu ertragen.« Der 44-Jährige lebt seit sechs Jahren in Gießen, seine Heimat aber ist die Ukraine. Und die wird unter den Augen der Weltöffentlichkeit gerade mit Bomben übersät.
Lytvynchuk ist in Lviv geboren und aufgewachsen. An seine Kindheit im Westen der Ukraine hat der 44-Jährige nur positive Erinnerungen. »Uns ging es gut. Ich hatte eine schöne Kindheit«, sagt er. »Wunderschön.« Dass er sich nach der Schule für ein Medizinstudium entschied, lag auf der Hand. Sein Vater arbeitete als Pharmakologe, die Mutter war Augenärztin. »Generell gab es viele Ärzte in unserer Familie«, sagt er. Den ersten Teil seines Studiums absolvierte Lytvynchuk noch in seiner Heimatstadt. Dann, zum Ende des Jahres 2004, gipfelte die politische Entwicklung in der Ukraine in Ereignissen, die nicht nur das Land, sondern auch Lytvynchuk nachhaltig prägen sollten.
Die orange Revolution war eine Folge der ukrainischen Präsidentschaftswahl, in deren Zuge sich die politischen Lager Wahlfälschung vorwarfen. Proteste und Demonstrationen folgten, und Lytvynchuk, damals 25 Jahre alt, war mittendrin. »Ich bin direkt von Lviv nach Kiew gefahren und drei Wochen geblieben. Auf dem Majdan habe ich bei der medizinischen Versorgung der Verletzten geholfen«, sagt er und betont: »Ich wollte für Gerechtigkeit kämpfen. Es ging um die Freiheit meiner Generation.«
Kurze Zeit später sollte Kiew auch der Lebensmittelpunkt von Lytvynchuk werden. Nach dem Studium der Humanmedizin in Lviv, seiner Approbation als Arzt und einer kurzen Zeit als Assistenzarzt einer Augenklinik verließ er den Westen des Landes, um in der Hauptstadt seine chirurgische Ausbildung anzutreten. Mehrere Jahre lebte er in Kiew und arbeitete am städtischen Krankenhaus. Eine gute Zeit, wie Lytvynchuk sagt. Heute kommen ihm über seinen damaligen Arbeitgeber aber keine netten Worte über die Lippen.
2014 rückte der Majdan erneut in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Der zentrale Platz der ukrainischen Hauptstadt wurde zum Epizentrum der Proteste gegen die Entscheidung der Regierung, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen zu wollen. Die ukrainische Polizei begegnete den Protesten mit exzessiver Gewalt, über 100 Menschen starben. Und erneut war Lytvynchuk mittendrin. »Ich habe im Winter jeden Tag auf dem Majdan geholfen und die Verletzten versorgt.« Der Klinikleitung, laut Lytvynchuk »korrumpierte« Anhänger der Regierung, gefiel der Einsatz ganz und gar nicht. »Sie haben uns verboten, die Verletzten zu operieren.« Abgehalten hat das Lytvynchuk und seine Mitstreiter jedoch nicht.
Die Euromajdan-Proteste mündeten in der Absetzung des Präsidenten. Ein Wandel durchzog die Ukraine. Allerdings nicht in allen Bereichen. So blieb zum Beispiel die alte Klinikleitung im Amt. Lytvynchuk und anderen Medizinern, die auf dem Majdan im Einsatz waren, wurde deutlich gemacht, dass sie an der Klinik keine Zukunft hatten. »Meine wissenschaftliche Karriere war gestoppt. Ich hatte keine Möglichkeit, mich weiterzuentwickeln.« Für den 44-Jährigen eine bittere und frustrierende Erfahrung. Jetzt, wo die Revolution, die er so sehr wollte, endlich geglückt war, hatte er keine Zukunft mehr in seinem Land. Und so entschloss er sich, seine Heimat zu verlassen. Zwei Jahre lang arbeitete Lytvynchuk in Österreich, bevor er die Stelle in Gießen erhielt.
Das ist jetzt sechs Jahre her. Zusammen mit seiner Ehefrau hat Lytvynchuk eine kleine Tochter, die in Gießen das Licht der Welt erblickte. »Uns ist es hier sehr gut ergangen. Wir haben neue Freunde gefunden und nette Nachbarn. Wir versuchen, uns zu integrieren.« Die guten Deutschkenntnisse und der schnelle berufliche Aufstieg zum stellvertretenden Direktor zeugen davon. Allerdings ist dieser Einsatz auch mit Entbehrungen verbunden. »Wenn man emigriert, fängt das Leben wieder von vorne an. Leider muss man sehr viel Freizeit investieren, um zum Beispiel die Sprache zu lernen und das System kennenzulernen. Das nimmt einem die Zeit für Leidenschaften.« Lytvynchuk hat zum Beispiel ein Faible für Literatur, Reisen und Jazz-Musik, früher hat er viele Jahre in einer Band gespielt. Heute habe er dafür keine Zeit mehr. »Die wenige Freizeit verbringen wir als Familie zusammen. Das ist uns sehr wichtig.«
Lytvynchuk meint damit seine Frau und seine Tochter. Er würde aber nur allzu gerne weitere Familienmitglieder in die Arme schließen. Zum Beispiel seine Geschwister, die noch immer in der Ukraine leben. Oder seine Schwiegermutter. »Letzte Woche haben die Russen eine Öl-Station in Lviv bombardiert. Das Haus meiner Schwiegermutter ist nur einen Kilometer entfernt. In der Ukraine ist derzeit niemand sicher.«
Die Bilder in den Nachrichten lösen bei vielen Menschen Entsetzen aus. Kaum vorzustellen, wie es für Lytvynchuk sein muss, die zerbombten Häuser und Straßen zu sehen. Es sind Häuser und Straßen, die er selbst betreten hat, auf denen er selbst gelaufen ist.
Wenn Lytvynchuk über den Krieg spricht, legt sich eine Schwere über seine Stimme. Er wirkt kraftlos und desillusioniert. »Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit macht uns verrückt. Die Hilflosigkeit paralysiert uns.« Dabei leistet Lytvynchuk sehr wohl Hilfe. Zusammen mit deutschen Freunden hilft er ukrainischen Geflüchteten bei der Suche nach Unterkünften in Gießen. Mit Augenklinik-Direktor Prof. Matus Rehak und der Geschäftsführung des UKGM hat er zudem eine große Hilfsaktion ins Leben gerufen, bereits fünf Transporte mit medizinischen Gütern sind in der Ukraine angekommen. Mit dieser Hilfe retten Lytvynchuk und seine Mitstreiter Leben.
Vielleicht ist es seinem Beruf geschuldet, dass sich Lytvynchuk dennoch tatenlos fühlt. Als Chirurg ist er es gewohnt, Probleme zu entfernen. In seinem Heimatland scheint eine Linderung des Leids jedoch in weiter Ferne zu liegen.