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»Sie waren Nachbarn«

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Von: Burkhard Möller

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Oberstufenschüler der Ostschule steuerten einen bewegenden Beitrag zu der Gedenkstunde auf dem Rathausplatz bei. © Burkhard Moeller

Gedenkstunde, Mahngang und Mahnwache: Hunderte Gießener haben gestern Abend an das Judenpogrom vor 84 Jahren erinnert, als auch in Gießen die Synagogen brannten. Dem Gedenken folgt heute ein konkreter Schritt gegen Antisemitismus.

Der Himmel hinter dem Stadttheater färbte sich am frühen Mittwochabend rötlich. Am Abend und in der Nacht des 9. November 1938 wies roter Schein am Himmel über vielen Städten des Deutschen Reichs nicht auf einen romantischen Sonnenuntergang hin, sondern auf einen barbarischen Akt: Hunderte Synagogen brannten bei dem Judenpogrom vor 84 Jahren nieder.

An diesen Tiefpunkt der deutschen Geschichte wurde am Mittwoch in Gießen, wo die beiden jüdischen Gotteshäuser in der heutigen Südanlage und der Steinstraße am Morgen des 10. November 1938 verwüstet und angezündet wurden, gleich bei mehreren Veranstaltungen gedacht. »Die Opfer waren Nachbarn, Arbeitskollegen und Mitschüler«, erinnerte Dr. Ruth Schünemann von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar bei der Gedenkstunde am Mahnmal auf dem Rathausplatz daran, dass es neben den Brandstiftungen in diesen Novembertagen auch Angriffe auf jüdische Geschäfte und Einrichtungen sowie Misshandlungen jüdischer Menschen gab. 236 Mitglieder der jüdischen Gemeinde Gießen seien dem Holocaust letztlich zum Opfer gefallen.

Der Einladung der Stadt, der Christlich-Jüdischen Gesellschaft und der Jüdischen Gemeinde waren gut 150 Personen an den Berliner Platz gefolgt, bei einem sich anschließenden Mahngang durch die Stadt wurden Stätten der Entrechtung der jüdischen Bevölkerung angelaufen, am Kugelbrunnen fand eine Mahnwache der Gießener »Omas gegen rechts« statt.

Ruth Schünemann und Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher zeichneten in ihren Reden nicht nur die Ereignisse von damals nach, sondern riefen angesichts einer Häufung antisemitischer Vorfälle zur zivilgesellschaftlichen Gegenwehr auf. »Judenhass ist kein Randgruppenphänomen, sondern in der Mitte der Gesellschaft verankert«, sagte Schünemann. Die Sicherheitsbehörden in Deutschland registrieren laut Becher durchschnittlich fünf antijüdische Straftaten pro Tag, angefangen bei Schmierereien über Beleidigungen bis zu körperlichen Attacken. »Die Stadt wird ihre Bemühungen verstärken, dem Antisemitismus entgegenzuwirken und jüdisches Leben in Gießen sichtbarer machen«, versprach der Rathauschef nicht zuletzt den zahlreich erschienenen Vertretern der Jüdischen Gemeinde. Heute Abend tritt der Runde Tisch gegen Antisemitismus, dessen Einberufung die Stadtverordnetenversammlung beschlossen hatte, erstmals zusammen, sagte Becher.

Bewegend war die Lesung von Schülerinnen und Schülern des Leistungskurses Geschichte der Stufe 13 der Gesamtschule Ost. Sie schilderten Lebensläufe von jüdischen Gießener Persönlichkeiten wie der Arztfamilie Katz aus Wieseck oder des LLG-Studienrats Dr. Siegfried Kann.

Dem Auftritt der jungen Leute schlossen sich geistliche Worte des evangelischen Dekans André Witte-Karp sowie von Gemeindereferentin Uta Kuttner an. Rabbiner Shimon Grossberg las das jüdische Totengebet, in dem die Standorte der Vernichtungs- und Konzentrationslager genannt werden. Anschließend legten Becher und Stadtverordnetenvorsteher Joachim Grußdorf einen Kranz am Mahnmal für die Opfer aus der Gruppe der Sinti und Roma nieder.

Weil auf dem Platz vor der Kongresshalle, wo der Gedenkstein für die große Gießener Synagoge steht, Bauarbeiten laufen, war die Gedenkstunde auf der Rathausvorplatz verlegt worden.

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