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Sie kennen sich seit 30 Jahren: Zwei Lehrer über besonderen Schüleraustausch mit Gießen

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Von: Kays Al-Khanak

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Die Lehrkräfte Nicola Roether und Jean-François Rio kennen sich seit Jahrzehnten. Nun ziehen sie auch beruflich an einem Strang. © Kays Al-Khanak

Dass ein Schüleraustausch funktioniert, hängt oft mit den Lehrkräften zusammen. Besonders, wenn diese sich seit Jahrzehnten kennen. So wie Nicola Roether aus Gießen und Jean-François Rio.

Eigentlich, sagt Jean-François Rio, sei er kein Deutschlehrer, sondern Deutschlandlehrer. Seine Aufgabe sei es, dass seine französischen Schüler beim Austausch im Nachbarland nicht bloß »Steine anschauen« - und ein Touristenprogramm absolvieren. Es gehe darum, dem Lernen der deutschen Sprache einen Sinn zu geben - indem die Jugendlichen sie in einer deutschen Familie und im Alltag anwenden. Nach der coronabedingten, zwei Jahre langen Pause besucht Rio aktuell mit 34 Schülerinnen und Schülern Gießen; kurz zuvor waren Jugendliche der Liebigschule gemeinsam mit ihrer Französischlehrerin Nicola Roether in Doué-le-Fontaine. »Endlich«, sagen die beiden Lehrkräfte. Was nach einem »Das müssen wir jetzt sagen« klingen könnte, ist bei ihnen ernst gemeint. Denn sie wissen um den Wert eines Jugendaustauschs - weil sie sich vor über 30 Jahren über einen solchen kennengelernt haben.

Ein sonniger Nachmittag in Gießen. Rio und seine Kollegin sitzen am Küchentisch von Roether und erzählen von ihrem Kennenlernen. Selbstverständlich übernachtet der 46 Jahre alte Franzose bei seiner Kollegin und ihrer Familie. Sie kennen sich ja schon so lange - und verstehen sich gut. Rio spielt zum Beispiel zusammen mit Roethers Ehemann bei den Alten Herren des TSV Kleinlinden Fußball, wenn er zu Besuch ist.

Alles fing vor über 30 Jahren mit Roethers Schwester an. Sie nahm an einem Frankreichaustausch teil - und lebte bei einer französischen Familie. Dort lernte sie auch den Sohn kennen: Jean-François Rio. »Ich war der einzige, der versucht hat, mit Nicolas Schwester Deutsch zu reden«, sagt er und lacht. Weil ihm die Fremdsprache gefallen habe, besuchte er in den nächsten Jahren regelmäßig die Familie seiner »Gastschwester« im Schwarzwald und lernte so immer besser Deutsch zu sprechen - und Nicola Roether kennen.

Ihre Wege trafen immer wieder aufeinander - und trennten sich dann wieder. Während die deutsche Sprache für Rio ein roter Faden in seinem Leben bleiben sollte und er später in München als Fremdsprachenassistent arbeitete, wählte Roether in der Jahrgangsstufe elf Französisch ab. »Als ich dann doch auf die Idee kam, Französisch zu studieren, boten mir seine Eltern an, zu ihnen zu kommen.« Im Herbst 1995 studierte Roether in Rennes - genauso wie Rio. An Wochenenden, erzählen die beiden, seien sie oft zu seinen Eltern gefahren. Es gilt heute wie damals: Eine Fremdsprache lernt man am besten, wenn man sie im Alltag nutzt. Und wo ginge das besser als in einer Familie - und nicht in einem Hotel, sagt Roether.

Schüleraustausch: Offenheit für Leben und Kultur

Aus diesem jahrzehntelangen Kontakt ist 2017 der Schüleraustausch zwischen dem Collège Lucien Millet in Doué-en-Anjou und der Liebigschule hervorgegangen. Die persönliche Verbindung zwischen den beiden Lehrkräften hat dabei eine große Rolle gespielt. Am Gießener Gymnasium gibt es aktuell drei Austauschziele in Frankreich. Für die rund 100 Schülerinnen und Schülern, die Französisch lernen, eine angemessen große Auswahl. Weitere Ziele sind USA, England und Spanien. Rio erzählt, dass von den 430 Kindern und Jugendlichen am Collège früher nur 10 Prozent Deutsch lernen wollten - also rund 40. »Ich habe aktuell 150 im Deutschunterricht, und ein Grund dafür ist der Austausch mit Gießen.«

Das hängt auch damit zusammen, dass Rio leidenschaftlich von Deutschland spricht - und so das vom Nationalsozialismus geprägte Deutschlandbild von einigen französischen Jugendlichen ins Wanken bringt. »Dagegen kämpfe ich, ich will zeigen, dass diese Zeit vorbei ist.« Außerdem zeige er ihnen im Rahmen des Austausches, warum der Deutschunterricht sinnvoll ist. »Ich beginne ständig meine Sätze mit: ›Wenn ihr nach Deutschland fahrt…‹« Darauf freuten sich selbst diejenigen, die gerade erst anfingen, die Sprache zu lernen.

Roether ergänzt: »Natürlich geht es um die Sprachkompetenz, aber auch um die Offenheit für andere Leben und Kulturen.« Und damit meint sie nicht nur die »Steine«, von denen Rio spricht. Er unterstreicht zum Beispiel die Bedeutung der »kleinen Kultur«: der Gastronomie. Die Schüler müssen zum Beispiel mit einer Einkaufsliste auf den Markt gehen und dort in der Fremdsprache die Zutaten einkaufen. Anschließend wird gemeinsam gekocht und gegessen. Für die jungen Franzosen stand in dieser Woche Grüne Soße und Rote Grütze auf dem Speiseplan. Rio schmunzelt, bevor er sagt: »Beim Essen überraschen sich Deutsche und Franzosen am meisten.«

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