Selbstständigkeit und Autonomie

Antiautoritäre Erziehung wirkt auch heute noch als Schreckgespenst durch viele Vorurteile: Die Kinder werden verzogen, und aus denen wird nichts im Leben. Keimzelle dieser Erziehung war in Deutschland die Kinderladen- Bewegung in den 60 er Jahren. Auch in Gießen gibt es seit 1968 einen Kinderladen, aber werden die Kinder hier noch antiautoritär erzogen?
In den 60 er Jahren, als es in vielen Familien noch normal war, dass man Kinder zur Erziehung schlägt und dass die Kleinen am Esstisch nicht sprechen dürfen, da bildete sich Widerstand. Eltern, in vielen Fällen Mütter, wollten ihre Kinder nicht länger in »normale« Kindergärten schicken, sondern dass der Nachwuchs radikal anders erzogen wird. In der Folge wurde sich in Elterninitiativen organisiert und eigene Kindergärten gegründet: die Kinderläden. Den Startschuss für diese Bewegung gab der erste Laden 1967 in Frankfurt, und bereits im Frühjahr 1968 wurde dann der Grundstein für den ersten Gießener Kinderladen gelegt. Das erzählt Barbara Aulbach, die seit 1987 Erzieherin im Kinderladen in der Weststadt ist und sich mit dessen Geschichte auskennt.
Kein Laissez-faire
»Damals wurde in Kindergärten wenig auf die Individualität der Kinder eingegangen«, sagt Aulbach. Es gab auch in Gießen den Wunsch, das zu ändern, und eine Mutter organisierte schließlich die gemeinsame Betreuung von zunächst vier Kindern in einem Kellerraum der Justus-Liebig-Universität. 1986 hat der Kinderladen dann schließlich Räume in der Rodheimer Straße bekommen, wo er sich bis heute befindet.
Und werden die Kinder dort immer noch antiautoritär erzogen? Den Begriff benutze der Kinderladen heute nicht mehr, sagt Aulbach. »Er ist missverständlich.« Denn viele Menschen würden unter antiautoritärer Erziehung Laissez-faire verstehen, also dass man die Kinder einfach sich selbst überlasse. »Aber das ist falsch.« Zwar stellte die Kinderladen-Bewegung in den 60 ern und 70 ern einen Bruch mit der vorherrschenden autoritären Erziehungsvorstellung dar, aber an deren Stelle traten neue Ideale. Anstatt gehorsam sollten die Kinder jetzt selbstständig werden. Und dazu sei die Förderung von mehr Selbstverantwortung wichtig geworden. »Kinder müssen dazu eigene Erfahrungen machen«, sagt Aulbach. Dass heiße aber nicht, dass es keine Grenzen gebe. Zum einen gibt es im Kinderladen Verbote, wenn sich Kinder verletzen könnten. »Niemand lässt hier ein Kind auf die Straße laufen.« Zum anderen intervenieren die Erzieherinnen und Erzieher bei Problemen zwischen Kindern, vor allem wenn ein Machtgefälle vorliegt. Aulbach nennt ein Beispiel: Ein größeres Kind nimmt einem kleineren ein Spielzeug weg. Das kleine Kind weint daraufhin, weil es sich nicht anders zu helfen weiß. Dann würde zum Beispiel eine Erzieherin versuchen, für das Kind zu formulieren, also in Worten auszusprechen, was in ihm vorgehe und auch Lösungen aufzeigen. Dadurch soll das Kind aus der hilflosen Situation befreit werden. »Wir lassen die Kinder nicht alleine stehen, aber versuchen ihnen die Möglichkeit zu geben, mit eigener Stärke Probleme zu lösen.«
Engagierte Eltern
Diese Herangehensweise steht im Kontrast zu früheren Zeiten, wo entweder mit dem älteren Kind geschimpft wurde oder das jüngere aufgefordert wurde, sich zu wehren. Dieser Umschwung der Kindererziehung sei heute jedoch kein Alleinstellungsmerkmal mehr der Kinderläden. »Mit den Jahren gab es ja eine Entwicklung in der Gesellschaft, auch in den Kitas.« Heute sei in allen Kitas klar, dass man auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen sollte und sie individuell fördern muss. Selbstständigkeit und Autonomie sind keine ungewöhnlichen Erziehungsziele mehr.
Was den Kinderladen von den anderen Kindergärten heute noch unterscheide, sei laut Aulbach deswegen weniger die Erziehungsmethode als die Struktur. Der Kinderladen werde von einem Elternverein getragen, und es werde von den Eltern regelmäßiges Engagement bei Festen, beim Putzen aber auch bei der Gartenpflege verlangt. »Das schreckt manche Eltern auch von einer Anmeldung ab.«
Außerdem versuchen die Erzieherinnen im Kinderladen eine enge Beziehung zu den Kindern aufzubauen, was sich auch im Betreuungsschlüssel ausdrückt. Hier kommen fünf Erzieherinnen und Erzieher - eine Vollzeitkraft und vier Teilzeitangestellte - auf 25 Kinder. Das Hessische Kinderförderungsgesetz sieht indes für Kinder zwischen drei Jahren und dem Schuleintritt nur 1,75 Erzieherinnen und Erzieher pro 25 Kindern vor. Durch mehr Personal will der Kinderladen besser auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen - unter antiautoritärer Erziehung stellen sich die meisten wohl etwas anderes vor.