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Schreck in der Nacht

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Von: Sebastian Schmidt

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seg_eaeh_240322_4c_2 © Sebastian Schmidt

Eine Familie flieht vor dem Bombenhagel aus der Ukraine nach Gießen. Hier fällt in der EAEH der Putz von der Decke auf den schlafenden Sohn. Der bleibt zwar unverletzt, trotzdem fühlt sich die Mutter in den folgenden Stunden alleingelassen.

Charkiw ist mit 1,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Bis vor Kurzem wohnte dort noch Alona Proskurina mit ihrem Mann und den zwei Kindern Kristina (19) und Maksym (10). Dann griff Russland die Ukraine an, und die Mutter floh mit den Kindern. Drei Tage und sechs Züge später ist die Familie in Gießen angekommen. Vorbei sind die Nächte im Luftschutzbunker, vorbei der Bombenterror über ihren Köpfen. Die drei Ukrainer werden in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH) registriert, sie bekommen Essen und ein Zimmer, das sie sich mit vier weiteren Personen teilen. Familie Proskurina ist in Sicherheit. Doch nachts werden sie plötzlich aus dem Schlaf gerissen: Gegen 4 Uhr fällt rund ein Quadratmeter Putz von Decke, zum Teil auf die Beine des 10-Jährigen. Seine Mutter will laut eigener Aussage Hilfe holen - einen Arzt, der den Jungen untersucht. Doch das gelingt nicht.

Am nächsten Tag steht Mykhailo Rybalov mit seiner Frau Tetiana und Familie Proskurina vor der EAEH. Der Gießener ärgert sich sichtlich. Alona sei die Cousine von Tetiana. Und der einzige Grund, warum die Proskurinas in der EAEH unterkommen sollten, war, weil bei den Rybalovs zu Hause kein Platz mehr sei. Sie haben bereits die ebenfalls aus dem Krieg geflohene Mutter von Tetiana Rybalov aufgenommen. »Aber hier bleiben sie jetzt keine Nacht mehr«, sagt Mykhailo Rybalov. Der Gießener übersetzt für Alona Proskurina: »Nachdem die Decke auf Maksym gefallen war, stand er unter Schock.« Alona Proskurina habe deswegen versucht, einen Arzt zu organisieren. Über das, was dann geschah, gibt es zwei unterschiedliche Schilderungen.

Vorwürfe an die Mutter?

Laut Alona Proskurina haben Sicherheitsmitarbeiter die Familie in eine Zeltunterkunft verlegt, wollten aber keinen Arzt holen. Die Mutter wurde auf den Sozialdienst vertröstet, der jedoch erst drei Stunden später gekommen sei. Aber auch der Sozialdienst habe keinen Arzt gerufen, da der Sohn körperlich unverletzt war. Eine Frau habe Alona Proskurina sogar vorwurfsvoll gefragt, was sie mit der Decke angestellt habe.

Laut dem für die EAEH zuständigen Regierungspräsidium Gießen ist die Familie jedoch noch in der Nacht von zwei Sozialbetreuern eines externen Dienstleisters besucht worden, die feststellten, dass niemand verletzt wurde, und die Familie verlegten. Dem Lage- und Meldedienst der EAEH sei dieser Fall aber erst am nächsten Mittag bekannt geworden, obwohl er einen 24/7-Bereitschaftsdienst habe. Laut RP-Sprecher Thorsten Haas ist auch weder der First Responder der Johanniter-Unfall-Hilfe noch die Rufbereitschaft der Medizinabteilung informiert worden. Haas sagt: »Dies ist umso erstaunlicher, da die First Responder heute Nacht mehrfach in Haus 12 waren, da dort Kinder behandelt werden mussten.« Ob sich das ganze Geschehen und die unterschiedlichen Schilderungen mit Kommunikationsschwierigkeiten erklären lassen, ist unklar. Möglich ist immerhin auch, dass Mitarbeiter der EAEH die Lage verkannt haben: Zwar war der Sohn körperlich unverletzt, aber die aus dem Bombenkrieg geflüchtete Mutter wollte - und brauchte vielleicht auch - die Zusicherung eines Mediziners, dass es ihrem Kind wirklich gut geht. Die hat sie nicht bekommen. Das RP bedauert den Vorfall nun und will laut Haas noch einmal in Kontakt mit der Familie treten.

Zu dem Zustand der Unterkunft sagt Haas: »Das Erdgeschoss des besagten Gebäudes, in dem sich der Vorfall ereignet hat, befindet sich in einem guten Allgemeinzustand.« Die letzte umfangreiche Renovierung der Zimmer liege erst knapp zwei Jahre zurück. Trotzdem wolle das RP eine turnusmäßige Gebäudeprüfung nun vorziehen.

Mykhailo Rybalov bekommt in der Zwischenzeit die Nachricht, dass die Familie vielleicht privat in Linden unterkommen könne. Der Kontakt sei durch die ukrainische Community zustande gekommen. Generell seien die Ukrainer zur Zeit gut vernetzt. In ihren Gruppen zeigen sie sich auch Fotos und Videos aus dem Kriegsgebiet. Als Tetiana Rybalov in einem Video die zerstörten Häuser in Charkiw zeigt, bricht sie in Tränen aus.

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seg_eaeh4_250322_4c © Sebastian Schmidt

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