»Scheinheilig und verlogen«

Gießen (ige). »Mir ist das Herz aufgegangen, als ich heute Morgen so viele gesehen habe«, ruft Hermann Schaus vor dem Rathaus in Gießen. Schaus, ehemaliger Verdi-Gewerkschaftssekretär und derzeit kommunalpolitischer Sprecher der Linken im Landtag, meint die etwa 500 Streikenden, die am Mittwochvormittag in einem Demo-Zug durch Gießen marschieren. Es ist der zweite bundesweite Warnstreik von Erzieherinnen und Erziehern, Kinderpflegerinnen, Sozialassistenten und anderen Berufsgruppen aus Kitas und dem Ganztag in Schulen.
Am 16. und 17. Mai stehen in Potsdam die nächsten Verhandlungen zu einem neuen Tarifvertrag für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst an. Die ersten beiden Gesprächsrunden waren für die Gewerkschaft nicht befriedigend verlaufen. Jens Ahäuser, zuständig für die Tarifkoordination Öffentlicher Dienst im Landesbezirk bei Verdi, ruft ins Mikrofon: »Was ist bisher passiert? Nix!« In politischen Sonntagsreden würden die Beschäftigten im sozialen Dienst über den grünen Klee gelobt. Gehe es aber darum, sie materiell anzuerkennen, verwiesen die Politiker und kommunalen Arbeitgeber auf die schlechte Finanzlage der öffentlichen Haushalte. »Das ist scheinheilig und verlogen.« Ahäuser fährt fort: »Wir wollen keine Kinderverwahranstalten. Wir wollen Kindern einen guten Start ins Leben geben. Dafür brauchen wir aber motivierte und gut qualifizierte Beschäftigte.« Pro Einrichtung fehlten derzeit im Schnitt drei pädagogische Kräfte. »Bei 4200 Kitas in Hessen sind das 12 600, die fehlen. Das ist die Realität. Und wir erwarten, dass hier Abhilfe geschaffen wird.«
Dass tatsächlich vieles im Argen liegt, verdeutlichen mehrere Erzieherinnen am Rednerpult. Anica Trudrung aus Wettenberg kritisiert, dass immer mehr Verantwortung gefordert sei, mit wachsenden pädagogischen Anforderungen. Sie fragt: »Warum werden wir nicht wie Lehrer bezahlt? Warum soll unsere Arbeit weniger wichtig als andere sein?« Ann Wetz aus Wetzlar mutmaßt, dass die niedrige Bezahlung an dem hohen Frauenanteil von 94 Prozent in den Kitas liege. Silke Frese arbeitet seit zwei Jahren in Pohlheim in einer Gruppe, in der ein Erzieher fehle. Jetzt kämen noch »viele Kinder aus den Kriegsgebieten« hinzu. Sie sehe nur noch erschöpftes Personal. »Obwohl das eigentlich ein wunderschöner Beruf ist.«
Auf die Aufforderung von Moderator Holger Simon, Verdi-Gewerkschaftssekretär Mittelhessen, dem Arbeitgeber Stadt Gießen symbolhaft die Rote Karte zu zeigen, stürmen Heerscharen von Arbeitnehmern auf dem Platz in Richtung Rathauseingang und recken ihre Hände mit der Botschaft »Rote Karte für VKA-Blockade« in die Höhe. VKA steht für Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände.