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Russische Kontinuitäten

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Von: Sebastian Schmidt

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Professor Martin Schulze Wessel versucht einen kulturbetonten Ansatz, um die russischen Expansionsambitionen zu erklären. SCREENSHOT: SEG © Sebastian Schmidt

Gießen (seg). Professor Martin Schulze Wessel eröffnete seinen Vortag im Rahmen der Ringvorlesung des Präsidenten der Justus-Liebig-Universität am Montagabend mit der These, dass man Putin auch als bloßen Repräsentanten einer russischen Tradition begreifen könne. In den Geschichtswissenschaften herrsche zwar der Trend vor, Systeme mit Personen zu erklären, also zum Beispiel Nazi-Deutschland mit Hilter, aber Wessel versucht, den Fokus eher auf eine Kontinuität in der Geschichte Russlands zu legen.

Der Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU München schickte seinem kulturbetonten Ansatz dabei vorweg, dass er sich keinesfalls einem »Russland war schon immer so« anschließe. Vielmehr mochte Wessel zeigen, dass der gegenwärtige Krieg in der Ukraine einen »Mächte-geschichtlichen Unterbau« hat.

Und so skizzierte Wessel in knapp 70 Minuten die Geschichte des »russischen Imperiums«, die von Peter I. im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart führt. Wessel erklärte diese Herangehensweise: »Es gibt keinen Expansionismus, der vom Himmel fällt.« Vielmehr bestehe ein Zusammenhang zwischen einer bestimmten Außenpolitik und einer bestimmten Ideologie.

Ein Fenster nach Europa aufgestoßen

Eines der entscheidenden Ereignisse im 18. Jahrhundert sei der große nordische Krieg zwischen Russland und Schweden gewesen. Wessel sagt dazu: »Russland stößt ein Fenster nach Europa auf« und wurde zu einem europäischen Imperium. Dabei sei es Russland jedoch nicht um eine Europäisierung gegangen, sondern um die Expansion.

Das habe in den Folgejahren schließlich Polen und die Ukraine betroffen, die beide Russland angeschlossen wurden. Polen blieb als Protektorat dabei etwas selbstständiger. In dem großen nordischen Krieg habe sich dann zum ersten Mal auch ein Ost-West-Gegensatz in Europa gebildet: Der russische Zar wollte zusammen mit Preußen Polen kontrollieren. London wollte, dass Preußen mit Polen zusammenarbeitet. Preußen entschied sich letztlich für das Angebot des Zaren.

Ein weiteres Epochenjahr sei 1830 gewesen. Sowohl die französische Revolution, wie auch der polnische Novemberaufstand seien prägend für Europa gewesen. In Westeuropa habe sich dadurch eine »ideelle Formation« gebildet, die Werte der Aufklärung verbreiteten sich.

»Auch das polnische Denken wird neu konfiguriert«, sagte Wessel. Und in Polen bildete sich der Gedanke, dass es die universelle Aufgabe der Emanzipation gebe. In Russland hingegen hatte der Nationaldichter Alexander Puschkin ein bis heute rezitiertes Gedicht über Polen geschrieben, in dem er die Slawen vor die Wahl stellte, in Russland aufzugehen - oder unterzugehen. Wessel sagte: »Eine Schärfe, die man bis in die Gegenwart verfolgen kann.«

Aus dem europäischen Blickwinkel sei die Zugehörigkeit Polens zu Russland übrigens nicht unbestritten gewesen, im Gegensatz zur Zugehörigkeit der Ukraine. Es habe schließlich bis nach dem Ersten Weltkrieg gedauert, dass Polen und die Ukraine unabhängige Staaten wurden - wenn auch nur für kurze Zeit.

Während der Sowjetunion habe der Nationalstaatsgedanke in den zugehörigen Ländern fortgelebt; es wurde immer versucht, seine eigenen Interessen gegenüber den übrigen Mitgliedsstaaten durchzusetzen, erklärte Wessel. Im Poststalinismus habe es dann den Versuch eines Neuanfangs gegeben, diesmal unter dem Motto der »Völkerfreundschaft«. Der Ukraine sei damals die Krim zugesprochen worden. »Ein Geschenk, wie es das weder vorher noch nachher jemals gegeben hat«, sagte Wessel.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR habe Russland dann die Weichen gestellt, indem man sich vor allem intellektuell weiter am Imperium orientierte, sagte Wessel und nannte als Beispiel den russischen Nationalisten und Buchautor Alexander Dugin.

Der Vortrag bildete den Abschluss der Ringvorlesung des Präsidenten der JLU für dieses Semester. Unter dem Thema »Unser Krieg? Die Zukunft der Ukraine und die Neuordnung der Welt« hatten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Politikerinnen eine Analyse des russischen Krieges in der Ukraine vorgenommen. Die meisten der Vorlesungen sind weiterhin als Video- stream auf Youtube abzurufen. Die Links findet man unter: uni-giessen.de/ringvorlesung.

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