Ronen Steinke redet »Tacheles«

Der Journalist und Jurist Ronen Steinke las aus seinem neuen Werk »Terror gegen Juden: Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage«. In der anschließenden Diskussionsrunde proklamierte er klar seine Forderungen.
Ronen Steinke ist promovierter Jurist, schreibt seit mehr als zehn Jahren über Innenpolitik in der »Süddeutschen Zeitung« und ist Buchautor. Er hat schon 2015 über Fritz Bauer geschrieben und sich in seinen Werken auf Hasskriminalität spezialisiert. All das jedoch war bei seiner Lesung auf Einladung der Vereine Criminalium und Kriminalprävention Gießen im Hermann-Levi-Saal eher sekundär.
Polizeischutz vor Synagogen
Steinkes Buch »Terror gegen Juden: Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage« könnte man auch als autobiografisches Werk verstehen. Denn Steinke selbst ist Jude und das ist für den Kontext der Lesung nicht zu vernachlässigen. »Ich hoffe, dass wir Tacheles reden. Ich bin in einer jüdischen Gemeinde in Bayern aufgewachsen und bei uns war es normal, dass vor der Synagoge die Polizei steht. Bei meiner Bar Mitzwa, dem jüdischen Äquivalent zur Konfirmation, stand eine Person mit Waffe vor der Synagoge und schützte diese«, begann der Autor. Entspannt in die Synagoge gehen zu können, kenne er bis heute nicht. »Muss die jüdische Gemeinschaft wirklich hinter Zäunen leben?«, fragte Steinke und las aus seinem Buch über eine Geschichte aus einer jüdischen Grundschule in Berlin-Charlottenburg, wo verdunkelte Fenster und das Sirren von Metalldetektoren zum Alltag gehören. »Die Schüler lernen, was ein Terroralarm ist. Dann dürfen sie keinen Mucks von sich geben. Das Surren der Sicherheitsschleuse gibt mir bis heute ein Sicherheitsgefühl, einfach, weil ich es mein Leben lang gewohnt bin. Gleichzeitig empfinde ich es als beklemmend.« Doch müsse sich die jüdische Gesellschaft auch die Frage stellen, welche Welt und welches Land außerhalb des Sicherheitszauns liege.
»Jüdisches Leben in Deutschland ist heute auch die Frage: wie erkläre ich’s meinen Kindern, vor allem im Bezug auf die Anschläge in Halle. Die philosophische Frage ist: Hält der Zaun die Außenwelt ab oder sperrt er die Innenwelt ein?« Die verriegelten Gemeinden seien zwar nötig, lösten aber kein Problem und verschärften dieses nur noch. »Da stellen sich die Leute dann die Frage: Verschanzen sich die Juden? Der abschreckende Eindruck jüdischer Einrichtungen ist ein Fluch«, betonte der Autor.
Was Hasskriminalität gegen Juden angeht, zeigte sich Steinke resigniert, dass lediglich 20 Prozent aller Taten angezeigt würden. »In vier von fünf Fällen entscheidet sich das Opfer dann dafür: Wenn ich zur Polizei gehe, dann habe ich mehr Probleme als wenn nicht. Das ist ein Misstrauensvotum an Sicherheitsbehörden.«
Nur 20 Prozent der Taten angezeigt
Der Autor erzählte von einem Fall aus Lauterbach. Dort war bei der lokalen Zeitung 1999 ein antisemitischer Leserbrief eingegangen, der wortwörtlich gedruckt wurde. Ein jüdischer Mitbürger schrieb daraufhin einen Leserbrief und der Teufelskreis begann. »Der Antisemit, ein bekannter Bürger der Stadt, erstattete Anzeige wegen Verleumdung. Bis dahin würde ich sagen: Ein Idiot tut, was ein Idiot tut. Doch die Polizei nahm die Anzeige auf, leitete sie an die Staatsanwaltschaft weiter und das Amtsgericht lud den Gegenschreiber auch vor. Der Richter fragte direkt zu Beginn: Wer von Ihrer Familie ist denn ermordet worden im Holocaust?«. Die Bloßstellung des Angeklagten, der öffentlich gedemütigt wurde, das habe sich in der jüdischen Gemeinschaft eingefressen. »Wir leben in einem Land, wo, wenn das Wort ›Jude‹ fällt, die erste Assoziation der Holocaust ist.«
In der folgenden Diskussion kamen zahlreiche Juristen zu Wort, die Steinke auch Contra gaben. Der Autor nahm das meist mit einem leichten Nicken zur Kenntnis, behielt seine Meinung häufig aber für sich. Deutlicher benannte er seine Forderungen an Justiz und Gesellschaft. Hasskriminalität müsse schärfer bestraft werden, als es bisher der Fall ist. Eine Justiz dürfe niemals die Argumentation antisemitischer Täter übernehmen. Eine viel konsequentere Entlassung von Rechtsextremen aus der Polizei sei nötig und der Schutz jüdischer Einrichtungen müsse stärker im Fokus stehen. »Die Polizei blutet weiter Vertrauen. Es gibt Dinge in jedem Beruf, wenn man die macht, gibt es keine zweite Chance. Es ist schlecht für die Institution Polizei, die unter dem Makel leidet«, so Steinke abschließend.