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Reisende Frauen und der Schlüssel zur Hölle

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Von: Christine Steines

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Der Bücherschrank in der Plockstraße wird neu bestückt. © Christine Steines

Der ältere Mann schüttelt den Kopf und zieht seine Begleiterin weiter. »Das kannst du vergessen, da ist nichts Gescheites dabei.« Die schüttelt genervt den Kopf: »So ein Quatsch, man findet dort immer etwas Besonderes.« Schon entbrennt ein klassischer Beziehungsstreit. Es hört sich so an, als sei es ein Schlagabtausch mit lange eingeübter Praxis.

Laute Musik schallt von den Schwätzern herüber zum Bücherschrank in der Plockstraße. Junge Leute singen, die Bässe wummern, die Tonanlage quietscht, die Botschaft des Textes ist nicht zu verstehen. Eine Dame in einem schicken bunt-karierten Mantel öffnet die Tür und stellt zwei neue Bücher hinein. Wenn sie in der Stadt sei, komme sie ab und zu vorbei und bestücke den Schrank, erklärt sie. »Das ist eine gute Möglichkeit, sich von Büchern zu trennen, ohne sie wegwerfen zu müssen«, sagt sie. Das stimmt. Niemand, der Bücher liebt und gerne liest, entsorgt Lektüre leichten Herzens im Müll. Der offene Bücherschrank wurde 2017 auf Initiative der Linken im Stadtparlament aufgestellt, die Finanzierung hat der Serviceclub Round Table 94 übernommen, unterstützt wird das Projekt von der Stadtbibliothek und dem Literarischen Zentrum. Unter dem hochwertigen, stabilen Hängeschrank mit seinen gläsernen Flügeltüren steht eine schlichte Obstkiste. Manchmal werden Bildbände dort abgelegt, für die oben kein Platz ist. Oder Kinder steigen darauf, um besser gucken zu können. Außer »Bettinas heißer Sommer« ist aber derzeit nichts für junge Leser und Leserinnen dabei.

Dafür dürfen Erwachsene eine literarische Zeitreise antreten. »Ihr da oben, wir hier unten«, Günter Wallraffs Klassiker aus den 80ern. Oder Hera Linds Bestseller aus derselben Zeit: »Ein Mann für jede Tonart«.

Wem das zu seicht ist, der kann sich mit »Sozialpolitik kompakt« oder »Positive Pädagogik« weiterbilden. Klingt alles nicht nach einer entspannenden Lektüre. Wie wäre es mit: »So lachte man in der DDR«? Lieber nicht. Dann schon eher »Die kalte Stadt«. Das passt zumindest zum Wetter. Eine junge Frau, die sich lange die Nase am benachbarten Schmuckgeschäft platt gedrückt hat, wirft einen Blick in den Schrank und entscheidet sich schnell. »Ich stelle es gleich zurück, ich brauche nur etwas für die Mittagspause«, sagt sie. »Abenteuer reisender Frauen«. Das klingt gut. Jedenfalls deutlich besser als »Der Schlüssel zur Hölle«. (cg)

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