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Gießener Expertin: „Friedensszenario aktuell nicht leicht vorstellbar“

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Von: Sebastian Schmidt

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Ob Putin auf die stockende Invasion der Ukraine noch extremer reagieren wird, ist laut Politikwissenschaftlerin Andrea Gawrich nicht vorhersehbar. ARCHIVFOTO: DPA © DPA Deutsche Presseagentur

Der Angriff Russlands auf die Ukraine geht weiter, aber NATO, EU und viele weitere Länder stehen so eng zusammen, wie lange nicht mehr. Laut Andrea Gawrich, Politikwissenschaftlerin an der JLU mit dem Schwerpunkt östliches Europa, beginnt eine Zeitenwende.

Frau Gawrich, seit vergangenem Donnerstag herrscht Krieg in Europa. Russland hat die Ukraine überfallen. Ist nun der Traum vom sicheren Europa geplatzt?

Seit 2014 die Krim von Russland annektiert wurde und es Kampfhandlungen in der Ost-ukraine gibt, habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass wir einen Krieg in Europa haben. Der war allerdings immer wieder auch ein »vergessener« Krieg. Insofern passt das Bild vom geplatzten Traum für mich nicht so ganz.

Obwohl der Konflikt bis ins Jahr 2014 zurückreicht, hat es eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis EU und NATO jetzt eine gemeinsame Linie gefunden haben.

Ja, aber das kann ich verstehen. Wir leben jetzt in einer veränderten Weltordnung, und es hat eine Weile gedauert, bis das in den Köpfen der Entscheider angekommen ist. Sie mussten sich innerlich erst einmal darauf einstellen, dass dieser Aggressor sich so verändert hat, dass er nicht mehr mit sich reden lässt und sein Handeln gar nicht mehr kalkulierbar ist.

Deutschlands Blockade bei SWIFT und die Weigerung, Waffen zu liefern, hatten für Kritik gesorgt.

Deutschlands Zögern lag wahrscheinlich an mehreren Gründen. Zum einen ist unsere Regierung keine 100 Tage im Amt und muss sich in verschiedenen Bereichen noch weiter organisieren. Zum anderen hatten wir über Jahrzehnte ein außenpolitisches Selbstverständnis als Zivilmacht. Dieses Prinzip ist schwer mit dem heutigen Krieg in Einklang zu bringen und wiegt noch einmal ganz anders als bei der deutschen Zustimmung zur NATO-Intervention im Kosovokrieg 1999.

Nicht wenige dürften Bauchschmerzen haben, wenn Deutschland jetzt wieder zu einer Militärmacht wird.

Auch wenn die Regierung jetzt entschieden hat, den Etat der Bundeswehr erheblich zu erhöhen, passt das nicht zum Begriff der Militärmacht. Ich würde eher sagen, wir professionalisieren die Bundeswehr, wie es seit Jahren notwendig gewesen wäre und von unseren Partnern erwartet worden war.

Merkel hatte sich in der Vergangenheit öffentlich dazu bekannt, dass es keine militärische Lösung des Ukraine-Konfliktes gebe. Obama hatte ähnliches gesagt. Hat man Putin damit die Tür für den Angriff geöffnet ?

Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Es war einhellige Auffassung, dass es eine politische Lösung geben muss, weil eine militärische Option zu einer Konfrontation zwischen NATO und Russland führen könnte. Ich glaube nicht, dass das ein Fehler war. Bislang sind auch viele davon ausgegangen, es wird in der Ukraine eine Fortschreibung dessen geben, was wir in Moldau und Georgien sehen. Also dass der Osten der Ukraine, von Russland gestützt, in einen »gefrorenen Konflikt« übergehen wird. Da hat man sich aber getäuscht.

Putin hat in einer Rede vor dem Angriff Lenin dafür kritisiert, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in der UdSSR verteidigt zu haben. Heißt das, Putin will in der Ukraine nicht nur eine Marionettenregierung installieren, sondern das ganze Land Russland einverleiben?

Putins Argumente springen in bizarrer Weise zwischen (pseudo-)historischen und gegenwartsbezogenen Narrativen und sind teilweise widersprüchlich. So hat er ja auch gesagt, er will die Ukraine »denazifizieren«, also ein vermeintliches faschistisches Regime entmachten. Aber klar ist, in seiner Vorstellung von Russlands Zukunft spielt die Ukraine eine große Rolle.

Hat sich Putin mit seinem Plan jetzt übernommen?

Er hat vielleicht geglaubt, er könnte schnell ein Marionettenregime installieren, im Moment sieht es nicht so aus, als ob das realistisch ist. Putins Projekt, die Ukraine zu unterwerfen, scheint derzeit nicht zu funktionieren. Das liegt an verschiedenen Gründen. Innerhalb des in der Ukraine befindlichen russischen Militärs gibt es offenbar Nachschubprobleme und nicht wirklich hartnäckigen Eifer für das Ziel des Militäreinsatzes. Auf ukrainischer Seite scheinen sowohl die Militärangehörigen als auch die Freiwilligen aufs Äußerste entschlossen zu sein. Noch ist aber völlig unklar, wie es ausgehen wird.

Wie konnte Putin diese Fehleinschätzung unterlaufen?

Es gab verschiedene Forschungen zu autokratischen Herrschern, die sehr lange im Amt sind. Da gibt es das Risiko, dass sie sich immer mehr isolieren, weil die Beraterstäbe zu loyal sind und den autokratischen Herrscher zu wenig mit der Wirklichkeit konfrontieren. Diese Anzeichen sehen wir auch bei Putin. Er hat offenbar pirmär enge Zirkel um sich, mit denen zu enge Szenarien besprochen werden, was zu Realitätsferne führt. Das ist sicher auch einer der Gründe, warum seine Invasion nicht so abläuft, wie er das gedacht hatte. Welche Folgen das jetzt aber haben wird, und wie Putin das versteht und ob er noch extremer reagiert, wissen wir nicht.

Ist eine diplomatische Lösung im Moment noch vorstellbar?

Die Situation ist aktuell weiterhin unübersichtlich. Wir sahen am Montag erste Gespräche zwischen Russland und der Ukraine. Es ist gut, dass Gespräche ohne Vorbedingungen möglich sind, aber dennoch gab es sehr gedämpfte Erwartungen auf ukrainischer Seite. Ein konkretes Friedens-Szenario ist aktuell nicht leicht vorstellbar, da wir davon auszugehen haben, dass der ukrainische Präsident an einer prinzipiellen EU- und NATO-Perspektive festhalten wird. Gleichzeitig gibt es das deutliche Signal der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, sich für einen EU-Beitritt der Ukraine auszusprechen.

China steht weiter hinter Russland. Wie wichtig ist diese Unterstützung?

Dies ist in ökonomischer Hinsicht sehr wichtig. Zudem muss man weiter im Blick behalten, dass Russland zusammen mit China in einem Sicherheitsbündnis, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, verbunden ist. China hat ja eine Verurteilung Russlands vermieden, aber sich im UNO-Sicherheitsrat zumindest »nur« enthalten.

Hat Putin nun den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher gemacht?

Die Sicherheitsängste haben in den skandinavischen Ländern natürlich zugenommen. Der NATO-Beitritt ist jedoch keine ganz akute Frage. Wir sind faktisch aktuell in einer Situation, in der alle westlichen Staaten sich geschlossen gegen Putin stellen. Das heißt, in politischer Hinsicht haben sich auch Schweden und Finnland klar gegen Russland positioniert. Ein Ergebnis der »Zeitenwende«, einen Begriff, den Bundeskanzler Scholz benutzt hat, und der jetzt inhaltlich zu füllen sein wird, ist ja auch, dass Putin nicht mehr »nur« als problematischer autokratischer Herrscher wahrgenommen wird, sondern jetzt auch als Kriegsverbrecher angesehen wird.

Deutschland ist abhängig von russischem Gas. Und ob Medikamente, Elektronik oder Kleidung, auch ein Großteil unserer Warenproduktion ist in Länder mit zweifelhaftem Demokratieverständnis ausgelagert. Denken Sie auch wirtschaftspolitisch wird nun eine Zeitenwende kommen?

Dass Demokratien auch mit Nicht-Demokratien Handel treiben, ist ohnehin ein grundsätzliches Dilemma. Das sieht man ja auch an den Handelsbeziehungen mit China. Zudem wird als alternativer Energielieferant für Russland aktuell auch über Katar diskutiert. Aber das energiepolitische Umsteuern, das jetzt notwendig wird, wird für die Bundesregierung eine große Herausforderung werden. Insofern wäre ein Paradigmenwechsel hier und jetzt utopisch.

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seg_gawrich_010322_4c © Red

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