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„Bitte geben Sie mir die Todesstrafe“ - Prozess in Gießen wegen Bissen, Kot und Schlägen im Knast

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Von: Kays Al-Khanak

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In seiner Zeit in der JVA Gießen soll sich der Angeklagte ordentlich danebenbenommen haben. © Oliver Schepp

Ein 26 Jahre alter Mann soll während seiner Haftzeit in Gießen Mitinsassen verletzt und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet haben.

Gießen - Als Oberstaatsanwalt Reimund Moser zu seinem Plädoyer ansetzen will, tut der Angeklagte so, als würde er schlafen. Erst mit geschlossenen Augen und den Kopf nach hinten gekippt. Dann mit dem Kopf auf dem Tisch des Saals 200 im Amtsgericht Gießen. Ab und zu stöhnt er. Nur: Richterin Sonja Robe kann er nicht täuschen. »Er schläft nicht, er tut nur so«, sagt sie. Also ändert der 26 Jahre alte Angeklagte seine Taktik. Er zeigt Moser den Mittelfinger, beschimpft ihn und anschließend die Richterin. Dann spuckt er. Mehr kann er nicht tun, auch wenn er es vielleicht gerne möchte, weil ihn fünf speziell geschulte Polizisten bewachen und während der gesamten Prozessdauer über mit speziellen Handschellen gefesselt halten. Nach dem Speien bekommt er als Spuckschutz eine lockere Fleece-Haube über den Kopf gezogen.

Wer ist dieser kleine Mann mit den zerzausten Locken und dem Vollbart, der da am Dienstag im Amtsgericht sitzt? Ein guter Schauspieler, ein notorischer Provokateur? Oder ein kranker Mann? Einer, der kurz nach seinem Einzug in den großen Gerichtssaal tönt, er sei kein Mensch, sondern ein Wilder. Verantworten muss er sich wegen diverser Delikte, die er in Haft begangen haben soll: Körperverletzung gegen Mitinsassen, Angriffe und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und Sachbeschädigung.

Prozess in Gießen: Dissoziale Störung der Persönlichkeit

Für die deutsche Justiz ist der 26 Jahre alte marokkanische Staatsangehörige kein Unbekannter. Er war im Februar 2021 wegen Diebstahls zu über einem Jahr Haft verurteilt und nach Verbüßung der Hälfte seiner Haftstrafe im September 2021 nach Spanien abgeschoben worden. Doch im März 2022 reiste er wieder ein - und kam erneut in Haft. Dementsprechend muss er sich nun wegen den zu jenem Zeitpunkt nicht mehr strafrechtlich verfolgten Taten vor Gericht verantworten.

Dabei handelt es sich nicht um Bagatelldelikte. Oberstaatsanwalt Moser fasst in der Anklageverlesung zwei Anklageschriften und einen Strafbefehl zusammen. Anfang August 2021 soll er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Gießen seinen Haftraum mutwillig unter Wasser gesetzt haben. Als er in einen gesondert gesicherten Haftraum gebracht werden sollte, soll er nach den Vollstreckungsbeamten geschlagen haben. Am Folgetag habe er über die Notrufanlage Justizangestellte beschimpft und wieder einen Tag später einem Mitarbeiter in den Finger gebissen, als dieser Medikamente und Frühstück bringen wollte, sagt Moser.

Prozess in Gießen: „Geben Sie mir 30 Jahre, bitte, bitte!“

Außerdem wird ihm vorgeworfen, Ende April 2021 in der JVA Gießen einen heute 36 Jahre alten Mitinsassen geschlagen und in den Finger gebissen zu haben. Dann soll er in der JVA Wiesbaden gegen einen Fernseher getreten haben. Gegen die herbeigeeilten Vollstreckungsbeamten, die ihn zu Boden bringen wollten, soll er sich gewehrt haben. Anschließend, sagt Moser, habe der Angeklagte versucht, eine Scheibe einzuschlagen und Einzelteile eines beschädigten Türspions der Zelle zu schlucken. Auch habe er eine Überwachungskamera in einem Raum mit Kot beschmiert.

Während der Anklageverlesung stört der 26-Jährige immer wieder. Mal will er von den Vorwürfen nichts hören, mal fordert er auf arabisch: »Geben Sie mir 30 Jahre, bitte, bitte!« Als Richterin Robe ihm antwortet, mehr als vier Jahre seien am Amtsgericht Gießen nicht drin, kontert er: »Bitte geben Sie mir die Todesstrafe.«

Über seinen Pflichtverteidiger Alexander Hauer gesteht der Angeklagte die Vorwürfe fast vollumfänglich ein. Seinen Mitinsassen jedoch will er nicht gebissen, »nur« geschlagen haben. Mit einem Hieb, sagt er, habe er den viel größeren und viel schwereren Mann zu Boden gebracht. Dass er den Anwalt ebenfalls ständig unterbricht, hält diesen nicht davon ab, seinen Mandanten trotzdem nach bestem Wissen und Gewissen zu verteidigen.

Weil der Angeklagte geständig ist, kann das Gros der 17 Zeugen ausgeladen werden. Nicht verzichten kann das Gericht aber auf den Sachverständigen Dr. Tobias Krusche, Facharzt für Psychiatrie. Der diagnostiziert beim Angeklagten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Dabei handelt es sich nicht um eine psychische Krankheit, sondern um eine »charakterliche Normvariante«. Damit ist der 26 Jahre alte Mann voll straffähig.

Prozess in Gießen: Provokationen und Beleidigungen

Das Gespräch in der JVA Kassel zwischen dem Angeklagten und Sachverständigen fand unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt; sie saßen in unterschiedlichen Räumen, durch eine Glasscheibe getrennt. Aufgewachsen mit sechs Geschwistern, habe der Angeklagte früh die Schule geschwänzt und ab dem Alter von zwölf Jahren Drogen konsumiert. Gegen den Vater, der immer wieder seine Mutter geschlagen habe, habe er sich aufgelehnt, ihn wortwörtlich bekämpft. Er habe Menschen auf der Straße bedroht und ausgeraubt, Benzin gestohlen. Vor allem vom Drogenkonsum, sagt Krusche, habe der Angeklagte geschwärmt. Zudem zeige er kein schlechtes Gewissen mit Blick auf seine Straftaten. »Aus den Sanktionen lernt er nicht«, sagt Krusche. »Es ist ihm wichtiger, sich durchzusetzen, anstatt darüber nachzudenken, wie er sich aus den vielen Haft-Beschränkungen befreien kann.«

In seinem Plädoyer fordert Oberstaatsanwalt Moser eine Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten - der Strafrahmen lässt maximal vier Jahre zu. Rechtsanwalt Hauer fordert sechs Monate weniger. Bevor das Urteil verkündet wird, nässt sich der Angeklagte in einer Sitzungspause ein. Als ihn die souverän agierende Richterin Robe, die sich durch keine Provokation aus der Ruhe bringen lässt, anschließend zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt, lacht er nur ein sehr hohes Lachen. Dann beleidigt er Moser und Robe und ruft ihr zu: »Shakira, ich liebe dich.« Als der Mann den Saal verlassen hat, sagt Robe trocken: »Shakira… das hatte ich auch noch nicht.« (Kays Al-Khanak)

Ebenfalls aktuell in Gießen vor Gericht: Vier mutmaßliche Feuerteufel.

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