Protest gegen »faulen Kompromiss« Paragraf 219a

150 Menschen fordern am Samstag bei einer Demonstration in Gießen die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Eingeladen hatte die Organisation »Pro Choice«.
Gießen (csk). Offenbar herrscht gesteigerter Redebedarf. Davon zeugen allein schon die fünf eng bedruckten DIN A4-Blätter sowie ein weiterer Absatz auf Seite sechs. Verfasst hat sie Alicia Baier, die in Gießen am Samstagmittag beim »Aktionstag zur Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen« als Hauptrednerin spricht. Vor etwa 100 Zuhörerinnen und Zuhörern am Berliner Platz liefert die Medizinerin dabei eine Art Rundumschlag - gegen die Politik, universitäre Lehrpläne, sogenannte »Lebensschützer« und aus ihrer Sicht antiquierte Geschlechterbilder. »Die Gesundheit von Menschen, die mit einer Gebärmutter geboren wurden, scheint in Deutschland nicht so wichtig zu sein«, lautet eine der provokanten Thesen.
»Der Mangel an zuverlässigen und einfach abrufbaren Informationen« gefährde die Unversehrtheit vieler Frauen, meint Baier. Auch nach der Reform des Paragrafen 219a Strafgesetzbuch, der »Werbung« für Abtreibungen verbietet, bleibe »sachliche Information« durch Ärzte »kriminalisiert«. Die Novelle erlaubt Medizinern und Kliniken nun zwar die Aussage, dass sie solche Eingriffe vornehmen - nicht aber nähere Informationen, zum Beispiel über Vorgehen und mögliche Risiken. Die Aktivisten halten das für einen faulen Kompromiss. Unter dem Motto »Schwangerschaftsabbruch raus aus dem Strafgesetzbuch!« fordern sie mit dem bundesweiten Aktionstag das Ende des »219a« sowie einen »freien Zugang zu sicheren Abbrüchen«.
Viele Hürden angeprangert
In Gießen hat das Bündnis Pro Choice zu Demonstration und Kundgebung aufgerufen. Nach der Begrüßung durch Annette Rudert (Pro Choice) führt die Demoroute vom Berliner Platz über die Südanlage und den Seltersweg bis zurück zum Ausgangspunkt. Mit Sprechchören wie »Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine! Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat!« machen die Demonstranten inmitten des samstäglichen Shopping-Trubels lautstark auf ihre Anliegen aufmerksam. Rechts und links des Protestzuges ernten sie viel Zustimmung - einige Passanten schließen sich spontan an.
Wieder am Rathaus angekommen, wird dann mehr gebuht als applaudiert. Der Unmut der Zuhörer gilt natürlich nicht Alicia Baier, sondern den Missständen, die sie anprangert. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, wenn ich die Stolpersteine auf dem Weg zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch benennen möchte«, sagt sie. An den meisten Hochschulen lernten angehende Ärzte wenig bis nichts über Abtreibungen, während Forschung dazu in Deutschland kaum existiere. Das Resultat sei eine veritable »Versorgungskrise«, so Baier, die ohne gravierende Veränderungen »in Zukunft noch schlimmer« werde.
Vor allem Frauen mit geringeren finanziellen Mitteln oder aus schwierigen sozialen Verhältnissen seien auf kostenfreie und leicht verfügbare Informationen angewiesen. Zu Baiers Forderungen gehören ferner mehr staatliche Unterstützung für Alleinerziehende, »Einfühlungsvermögen und Solidarität« seitens der Männer und ein freier Diskurs über Schwangerschaftsabbrüche. So oder so müssten diese »endlich öffentliche Gesundheitsleistung« sein, das heißt von Krankenkassen finanziert werden. All das torpedierten die im internationalen Vergleich sehr restriktiven deutschen Gesetze.
Für zusätzlichen Unmut unter den Aktivisten sorgt die seit Kurzem in Gießen sichtbare, umstrittene Bus-Werbung von »Pro femina«. Rudert spricht in diesem Kontext von einer »Pseudoberatungsorganisation«, Baier nennt es »die Spitze des Absurden«, wenn »sachliche Information« verboten, die Kampagne einer »irreführenden Beratungsstelle« jedoch legal sei.
Eine weitere Rede hält Ina Lutz vom »Frauen*Streik-Bündnis Frankfurt«. Zehn Aktivistinnen aus der Mainmetropole sind nach Gießen gekommen. Das Thema sei »ja von Natur aus ein überregionales«, erklären sie ihre Unterstützung. Mehr noch: Am Samstag, dem globalen »Safe Abortion Day«, ist es sogar ein internationales.