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NS-Vergangenheit kritisch aufgearbeitet

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Von: Dagmar Klein

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Am bekanntesten unter den in der Ausstellung vorgestellten Historikern dürfte Hans Georg Gundel (1912-1999) sein, der in Gießen bis 1978 alte Geschichte lehrte. © Dagmar Klein

Ein studentisches Ausstellungsprojekt beleuchtet in der Universitätsbibliothek die Karrierewege von zehn Gießener Historikern über Systemgrenzen hinweg. Deren Berufsbiografien starten Ende des 19. Jahrhunderts und reichen bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Historiker sind Experten für die Vergangenheit, auch sie befassen sie sich eher selten mit der eigenen Geschichte. In einem Seminar haben Studierende das 60. Jubiläum des Historischen Instituts der Universität Gießen zum Anlass genommen, sich auf Spurensuche nach Gießener Geschichtsprofessoren zu begeben. Bei zehn von ihnen gab es eine gute Quellenlage in Archiv und Bibliothek, das Gezeigte ist also eine Auswahl. Am Ende des Seminars stand das Erstellen eines Banners, um die Person vorzustellen. Dies gelang so vorzüglich, dass man nach einem Ausstellungsort suchte, der über das Institut hinausgeht und wurde in der Universitätsbibliothek fündig.

»Eigentlich können wir nicht miteinander reden«, sagt Prof. Hannah Ahlheim bei der Eröffnung und schmunzelt. Sie ist nämlich für Zeitgeschichte zuständig und ihr Kollege Prof. Stefan Tebruck für Mittelalterliche Geschichte. Was hätten die Fachgebiete sich schon zu sagen? Doch dass es auch gemeinsam geht, hat dieses Seminar bewiesen und zwar so gut, dass die Studierenden bei der Ausstellungseröffnung am Donnerstag mit Blumen bedankt wurden. Ob es das schon mal gab?

Die Berufsbiografien starten Ende des 19. Jahrhunderts und reichen bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Dieser Zeitraum war geprägt von politischen Systemwechseln und von zwei Weltkriegen: vom Kaiserreich über die Weimarer Demokratie zur NS-Diktatur und wieder zur Demokratie. Die Lebenswege der Wissenschaftler zeigen, dass die meisten von ihnen ihre Karriere über Systemgrenzen hinweg machten. Einige fügten ihre Forschungsthemen dem nationalsozialistischen Weltbild ein und konnten in der jungen Bundesrepublik wieder Fuß fassen.

Fritz Heichelheim zurück aus dem Exil

Mit Fritz Heichelheim gibt es eine jüdische Biografie der Vertreibung und des Exils in Kanada. Der Althistoriker nahm bereits 1946 wieder Kontakt auf nach Gießen, wegen Entschädigungszahlung, kehrte als einziger von 31 NS-entlassenen Wissenschaftlern zurück und übernahm Gast-Lehraufträge. Seine Rückkehr dürfte eng damit zu tun haben, dass seine familiären Wurzeln in Gießen liegen.

Am Anfang der Ausstellungsreihe wird der »Universalhistoriker« Wilhelm Oncken (1838-1905) vorgestellt, Gründervater des 1879 eingerichteten Historischen Seminars. Am Ende stehen die in der Öffentlichkeit wenig bekannten Professoren Hans-Dietrich Kahl (1920-2016) für Alte Geschichte und Carlrichard Brühl (1925-1997), zuständig für Mittelalterliche Geschichte. Es gibt einige, die nur kurz hier waren und ihre Karriere andernorts fortsetzten, dazu gehören: Gerd Tellenbach, dessen Gießener Jahre 1937-1942 lagen, während Martin Göhring 1961-1968 und Wilhelm Hoffmann 1962-1968 in Gießen lehrten, also nach Wiedereröffnung als Justus-Liebig-Universität. Friedrich Lucas war der erste Geschichtsdidaktiker, in Gießen lehrte er 1961-1974, seine Fachbücher gehören bis heute zur Standardliteratur. Der wenig beliebte Hans Patze war 1963-1969 für Mittelalterliche und Landesgeschichte zuständig, gegen den Konservativen richteten sich studentische Flugblätter der von Revolte geprägten Zeit. Auch das gehört neben Büchern und Aktennotizen zur Präsention in der Ausstellung.

Bis 26. August in der Unibibliothek

Am bekanntesten dürfte Hans Georg Gundel (1912-1999) sein, der bis 1978 alte Geschichte lehrte und zusammen mit Moraw und Press die 1982 erschienene, zweibändige Biografie-Sammlung ›Gießener Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts‹ herausgab. Darin sind 115 Biografien, ein Nachschlagewerk für alle, die sich mit Unigeschichte befassen. Dabei ist zu bedenken, dass vorwiegend Schüler über ihre Lehrer schrieben, entsprechend unkritisch ist so manche Biografie.

Das studentische Resümee ist in der entsprechenden Vitrine nachzulesen: »Die Darstellung in diesen Bänden prägte das Bild vom Historischen Institut der Universität Gießen nachhaltig. Sie können als ein Versuch gewertet werden, die Deutungshoheit auch über die eigene NS-Geschichte zu erhalten und tragen wenig zur kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit bei.« Das muss die heutige Generation leisten, die Ausstellung ist ein guter Schritt in die Richtung. Prädikat: Sehenswert.

Zu sehen bis 26. August montags bis sonntags von 7.30-23 Uhr, im Ausstellungsraum der Unibibliothek (Otto-Behaghel-Straße 8).

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