Nirgendwo vollständig zu Hause

Slata Roschal las anlässlich des Tags gegen Rassismus aus ihrem Debütroman »153 Formen des Nichtseins«. Eine spannende literarische Erkundung von einer, die in keiner Welt komplett zu Hause ist und sich gegen Definierung von außen wehrt.
Radikaler als Annie Erneaux oder »ein schonungsloses Romandebüt« - die Kritiker waren voll des Lobes, als Slata Roschal ihren Debütroman »153 Formen des Nichtseins« herausbrachte. Mit dem 2022 für den Deutschen Buchpreis nominierten Werk war die russischstämmige Autorin, die seit ihrem fünften Lebensjahr in Deutschland lebt, nun auf Einladung des Literarischen Zentrums im Pausenraum des Rathauses zu Gast.
»153 Formen des Nichtseins« erzählt von der Suche nach der eigenen Identität. Ich-Erzählerin Ksenia fühlt sich schon als Kind hin- und hergerissen zwischen dem »Russischsein« und dem »Deutschsein«. Für sie sind das nur zwei weitere Formen des Nichtseins. Aufgewachsen bei den Zeugen Jehovas ist sie Wissenschaftlerin, Jüdin, Schriftstellerin, Mutter - oder eben nicht und dazu noch so viel mehr. In 153 Textfragmenten begibt sich Ksenia auf die Suche nach ihrer Identität. Sie erkundet ebenso Erinnerungen an ihre Kindheit und die Auswanderung wie auch Ebay-Anzeigen, in denen das Wort »russisch« enthalten ist. Und sie hadert immer wieder mit ihrer Orientierungslosigkeit, aber auch jeder Form der Zuschreibung, etwa wenn der armenische Geliebte im Buch Ksenia, und damit alle Frauen, nur entweder als Hure oder als Ehefrau kategorisieren möchte.
»Wenn ich von Russen rede«, so schreibt Slata Roschal im Roman, »dann gehe ich von etwa dreihundert Russen aus, die ich seit meiner Kindheit bis jetzt kennengelernt habe.« Ein Roman, der uns in Zeiten des Krieges »die Russen« erklärt, ist das Buch also mitnichten. Sie schreibe einfach über das, was sie kenne, sagt die Autorin und wehrt sich gegen die Einschätzung, wenn man etwas über eine andere Kultur lese, diese dann auch tatsächlich verstanden zu haben.
Probleme mit der Halbsprachlichkeit
»Es geht um ganz viele Identitäten, die wir alle gleichzeitig haben«, betont sie, und da sind nationale Zuschreibungen eben nur ein Bereich. Geschlecht, Sprache, Religionszugehörigkeit, Alter - so viele Faktoren sind »Formen des Nichtseins«. Aber Roschal will dabei auch ihre Texte selbst sprechen lassen, sagt: »Ich mag Texte, über die man nicht viel sagen kann.«
Im Gespräch mit Vera Stelter vom städtischen Büro für Integration erzählt sie, wie sie anhand von bunt markierten und auf dem Fußboden verteilten Zetteln ihre Texte zu einer Collage zusammengefügt hat. Und sie demonstriert mit Leseproben, wie unterschiedlich diese Fragmente sind. Roschal reiht Gebete, Prosa, Lyrik oder Zeitungsanzeigen aneinander und entfaltet sogar das »ästhetische Potenzial« einer CSU-Pressemitteilung, nach der Migranten mit ihren Kindern möglichst Deutsch sprechen sollten, weil dies ein Schlüssel zur Integration sei.
Auch für Roschal ist Sprache wichtig, aber sie kennt wie Ksenia im Buch auch die Probleme der Halbsprachlichkeit, wenn jemand eben keine der Sprachen wirklich sicher beherrscht. Sie will für dieses Problem, »eine Art der Behinderung«, sensibilisieren.
Ein nächster Roman ist bereits in Arbeit, verrät sie. Slata Roschal wird darin wieder über etwas schreiben, was sie aus eigenem Erleben kennt: über eine Mutter, Literatur von Dostojewski und das Übersetzen von Briefen.