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»Nie das Land der Einzelfälle«

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Von: Kays Al-Khanak

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Der Demo-Zug startet am Berliner Platz. © Marc Schäfer

Am Sonntag ist es drei Jahre her, dass bei einem rechtsextremen Terrorakt neun Menschen in Hanau ermordet wurden. Aus diesem Anlass demonstrierten am Mittwochabend rund 200 Menschen in der Gießener Innenstadt gegen Hass, Hetze und Rassismus. Neben Worten der Trauer gab es auch Stimmen der Enttäuschung und Wut.

Die eindringliche Rede von Hatice Korkmaz sorgt für eine schwere Stille unter den rund 200 Menschen, die am Mittwochabend anlässlich des nahenden dritten Jahrestags des rechtsextremen Terrorakts in Hanau auf den Berliner Platz gekommen sind. »Liebes Deutschland«, sagt sie mit Blick auf Orte der Schande wie Solingen, Mölln, Halle oder Hanau, mit Blick auf den Mord an Walter Lübcke oder auf den NSU, »du warst nie das Land der Einzelfälle.« Für die migrantische Gemeinschaft betont sie: »Du willst uns nicht wahrhaben. Du willst uns nicht hier haben.« Aber die Menschen mit Einwanderungsgeschichte gingen nicht weg, »und wir akzeptieren deinen Rassismus nicht mehr«. Da brandet zum ersten Mal lauter Applaus auf.

Am 19. Februar 2020 brauchte der 43 Jahre alter Tobias R. nur sechs Minuten, um in Hanau neun Leben auszulöschen: Er erschoss Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovic, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Paun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoglu. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Ein breites Bündnis aus Gießener Organisationen hatte aus diesem Anlass zu der Gedenkveranstaltung aufgerufen. Da am Jahrestag eine große Aktion in Hanau geplant ist, sollte die Demo in Gießen früher stattfinden. Hinzu kommt sicher auch der Umstand, dass am Sonntag der Faschingsumzug durch die Innenstadt führt.

In einem der ersten Redebeiträge trägt Korkmaz einen nach eigenen Angaben »kreativen« Text vor; doch genau der geht vielen Zuhörerinnen und Zuhörern nah. Sie schildert, wie ihr Vater nach Deutschland gekommen sei, um unter »miserablen Arbeitsbedingungen« in der Stahlindustrie zu schuften. Dass es trotzdem im Einwanderungsland Deutschland Politiker wie den CDU-Chef Friedrich Merz gebe, der »unsere kleinen Neffen und Cousins im Jahr 2023 immer noch kleine Paschas nennt«.

Ähnlich argumentiert Mohamed Rashid für die muslimischen Gemeinden in Gießen. Die AfD zeige, dass »antimuslimischer Rassismus im Bundestag angekommen und diskursfähig geworden ist«. Nicht Migration sei »die Mutter aller Probleme«, wie der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) gesagt hatte, sondern struktureller Alltagsrassismus. Für den Kreisausländerbeirat betont Taner Kaya, dass auch Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die in Deutschland geboren wurden, täglich das Gefühl »vertrauter Fremdheit« erlebten. »Es ist nicht unsere Schuld, dass wir von Rassisten unerwünscht sind«, sagt er. Schuldig machten sie diejenigen, die den Rassismus weitertragen oder ihn tolerieren.

Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher sagt, der Terrorakt von Hanau habe Gewissheiten erschüttert und Fragen aufgeworfen: »Muss man als Mensch mit ausländischen Wurzeln fürchten, dass man in einer Kneipe oder an einem Kiosk Opfer eines rassistischen Mörders werden kann?« Becher fordert, dem Hass und der Intoleranz »ein Weltbild von Vielfalt, Freiheit, Toleranz« entgegenzustellen. Sich klar gegen Rassismus im Alltag zu positionieren und einzusetzen, sei Aufgabe von Politik und Zivilgesellschaft, »letztlich für jeden Einzelnen von uns«. Und für die Jüdische Gemeinde fordert Dow Aviv eine »Null-Toleranz-Strategie des Rechtsstaats« gegen Rassismus und Antisemitismus.

Weitere Reden hielten der Gießener Stadtrat Franceso Arman für den Studierendenverein der Sinti und Roma, Eden Tesfaghiorgis für den Ausländerbeirat der Stadt Gießen und ein Vertreter der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Gießen.

Der Demo-Zug führt vom Berliner Platz über den Anlagenring Richtung Elefantenklo und über den Seltersweg zurück zum Berliner Platz. Dabei werden nur wenige Pappschilder mit Slogans hochgehalten - dafür umso mehr Plakate, die die Gesichter der neun Menschen zeigen, die am 19. Februar 2020 ermordet wurden. Getreu dem Motto der Hinterbliebenen: Sag ihre Namen - und zeige ihre Gesichter. Immer und immer wieder.

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Kerzen für die neun Menschen, die am 19. Februar 2020 in Hanau bei einem rechtsextremen Terrorakt ermordet wurden. © Marc Schäfer

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