1. Gießener Allgemeine
  2. Gießen

Neues Buch: Kristina Hänels Weg zur Galionsfigur

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Karen Werner

Kommentare

Ein Brief vom Amtsgericht ändert Kristina Hänels Leben. In ihrem neuen Buch schildert die Gießener Ärztin, wie sie eine Initiative für Frauenrechte auslöst, die die Bundesregierung ins Wanken bringt.

Sehr geehrte Frau Hänel, bitte geben Sie nicht auf, haben Sie weiterhin Mut und Kraft für Ihre gute Sache! Meine Mutter ist 1954 mit 34 Jahren an einer Abtreibung gestorben, die sie selbst vornehmen musste, um – nach sechs Kindern – keine weiteren einem soziopathischen Vater auszusetzen. Ich grüße Sie mit großer Dankbarkeit...« Solche Briefe haben Kristina Hänel bewegt, zur Galionsfigur einer breiten Bewegung für Frauenrechte zu werden. Diese hat eine Reform des Strafgesetzbuch-Paragrafen 219a erreicht und setzt sich weiter für seine Streichung ein. In ihrem neuen Buch schildert die Gießenerin sehr persönlich, wie viel Kraft der Weg an die Öffentlichkeit gekostet hat – aber auch, wie gut ihr der große Zuspruch tut nach Jahren der Ächtung. An diesem Wochenende stellt sie »Das Politische ist persönlich. Tagebuch einer ›Abtreibungsärztin‹« auf der Buchmesse in Leipzig vor.

Schon 1994 hatte Hänel unter dem Titel »Die Höhle der Löwin« erstmals »Geschichten einer Ärztin über Abtreibung« veröffentlicht. Aus gutem Grund verbarg sie sich damals hinter dem Pseudonym Andrea Vogelsang. Sie hatte häufig Anfeindungen erlebt.

Diese Erfahrungen wirken nach, als die Allgemeinmedizinerin am 3. August 2017 einen Brief vom Amtsgericht erhält. »Strafverfahren gegen Sie wegen Werbens für den Abbruch einer Schwangerschaft…« Schreck und Scham sind ihre ersten Reaktionen. Bisher hatten die Anzeigen von »Lebensschützern« nie vor Gericht geführt. Doch diesmal hat der Student aus Kleve, der die Jagd auf Ärzt/innen ein »Hobby« nennt, die Staatsanwaltschaft erfolgreich unter Druck gesetzt.

Allmählich wächst Hänels Erkenntnis, dass beim tabuisierten Thema Abtreibung das Persönliche politisch ist und umgekehrt. Sie begreift die Dimension der Medizinereinschüchterung und den Zusammenhang mit der neuen Rechten. In einem Drohbrief ist die Rede von ihrer »Semitenhackfresse«.

Völlig unerfahren formuliert sie eine Petition an den Bundestag – 150 000 Menschen werden sie online unterzeichnen – und wird bald überrollt von Medienanfragen. Hänel lernt schnell und begegnet »vielen wunderbaren Frauen und Männern«, die ein reges Unterstützerkomitee begründen. Auf der Straße wird sie beglückwünscht. Nein, sie steht nicht mehr in der »Schmuddelecke«. Und ständig bekommt sie Lebensgeschichten erzählt. Etwa die einer jungen Frau mit Behinderung, die von drei Männern vergewaltigt wurde. Ihr hat sie das Buch gewidmet.

Kristina Hänel: Mit Tempo 200 durch den Alltag

»Fühle mich, als hätte ich den ganzen Tag mit 200 km/h zugebracht, obwohl ich nur bis 140 km/h zugelassen bin«, seufzt Kristina Hänel. Denn der Alltag geht ja weiter. Sorgfältig setzt sie sich mit der Situation jeder Patientin auseinander. Sie betreut als Reittherapeutin behinderte Kinder, macht Klezmer-Musik und bereitet sich auf die Triathlon-Europameisterschaft vor. Sie berichtet von Schlafstörungen und Geldsorgen.

Bei einem Kongress in Frankreich lernt sie Mediziner kennen, die in der »Pro-Life«-Bewegung aktiv waren, bis sie auf »die Realität« trafen. Sie selbst wurde vor gut 30 Jahren eher zufällig zur »Abtreibungsärztin«, »da es in Gießen niemand anderes machen wollte«, und erklärt noch einmal ihre Sicht: Auch sie möchte Schwangerschaftsabbrüche möglichst vermeiden. Doch die Alternative zum professionellen Eingriff ist häufig der dilettantische. Daran sterben laut einer Studie pro Jahr weltweit 47 000 Frauen.

Ihre Erfahrungen mit Politikern deutet die Ärztin nur an. Sie hat Diskretion zugesagt und das Buch ohnehin vor dem Kompromiss der großen Koalition beendet. Ausführlicher schildert sie die Verhandlungen in Gießen. Obwohl beide mit der Verurteilung zu 6000 Euro Geldstrafe endeten, erlebt sie sie völlig unterschiedlich: Am Amtsgericht ist es »unsäglich«, am Landgericht »mein schönster Prozess«. Ihr Ziel bleibt das Bundesverfassungsgericht. Eines hat Kristina Hänel längst akzeptiert: »Mein Leben wird nie mehr sein wie vor dem 3. August 2017.«

Kristina Hänel: Das Politische ist persönlich. Tagebuch einer »Abtreibungsärztin«, Argument Verlag Hamburg 2019. Mit einem Vorwort von Luc Jochimsen und Anmerkungen von Thomas Vallée.

Zusatzinfo

Auszug aus Hänels Buch "Das Politische ist persönlich"

»Ein Wochenende bei der Familie meines Sohnes. Auszeit. Ich bringe meinen fast fünfjährigen Enkel, den Träumer, ins Bett (...) ›Oma, was ist für dich das Schönste auf der Welt?‹ Ich liege so glücklich neben ihm, fühle, wie sehr ich ihn liebe, und sage ohne nachzudenken: ›Das Schönste auf der Welt ist, dass man Kinder kriegen kann.‹ Natürlich ist es das. Wie immer in diesen Tagen tauchen Gedanken an den bevorstehenden Prozess in mir auf. (...) Und wieder der Gedanke, dass ich mich dauernd rechtfertigen und sagen muss: Ich liebe Kinder. (...) sogar die Presse fragt es. ›Ach so, Sie haben Kinder, ach so, Sie haben Enkel. Prima, das schreibe ich in den Artikel mit rein‹, sagen sie dann.«

Auch interessant

Kommentare