1. Gießener Allgemeine
  2. Gießen

Neue Straßenbahn in Gießen? Studienarbeit deutet Alternative an

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Burkhard Möller

Kommentare

Heute vor 70 Jahren fuhr in Gießen zum letzten Mal eine Straßenbahn. Eine Studienarbeit der Gießener Universität deutet ein Umdenken an.

Gießen - Vor 70 Jahren war es ein Aprilscherz in der Zeitung, der die Volksseele zum Kochen bringen sollte: Ein Foto in der Gießener Freien Presse (heute Gießener Allgemeine) zeigte Arbeiter einer »Sondergruppe«, die sich im Wiesecker Weg angeblich am Wiedereinbau der gerade erst entfernten Straßenbahnschienen zu schaffen machten.

regiotram_150323_4c
Eine schicke Gießener Zukunftsvision schmückt als Deckblatt die Arbeit von Till Hentschel. PROJEKTION: B: RAQUEL UND CHRISTOPHER V. GÖBEL © Red

Gießener Straßenbahn fuhr von 1909 bis 1953

Die Straßenbahn in Gießen, die das Stadtbild seit 1909 geprägt hatten, galten in den Wiederaufbaujahren als Auslaufmodell, obwohl sie im Kriegsjahr 1940 noch über vier Millionen Fahrgäste transportiert hatte. Am 3. April 1953 fand die Abschiedsfahrt der Gießener Straßenbahn statt.

70 Jahre nach dem Rückbau der Gießener Straßenbahnstrecken ist das staufreie Verkehrsmittel wieder up to date - in Gießen bislang aber nur in den Diskussionen, die seit einigen Jahren um die sogenannte Verkehrswende geführt werden. Dass eine Regiotrambahn eigentlich die bessere Alternative zum nach wie vor wachsenden Autoverkehr wäre, hat jetzt der Gießener Student Till Hentschel in einer Bachelorarbeit angedeutet.

Sie entstand im Wintersemester an der Professur für Landschafts-, Wasser- und Stoffhaushalt der JLU und hat sich mit den Potentialen und Risiken einer Regiotram-Bahn beschäftigt. Die Ergebnisse seiner Befragung von Experten und Kommunalpolitikern »unterstützen definitiv die Vermutung, dass die Regiotram klimatologisch, verkehrsplanerisch, sozial und wirtschaftlich eine gute Idee wäre«, schreibt Hentschel in seinem Fazit

Gießen: Grundlage ist der Bau einer Trambahntrasse

Grundlage von Hentschels Befragung ist der Bau einer Trambahntrasse nach dem »Karlsruher Modell«, deren Gleis am Ostende des früheren US-Depots ausgekoppelt würde und auf der Rödgener und Grünberger Straße zum Berliner Platz und weiter zum Marktplatz führe. Über Bahnhofstraße und Westanlage würde der Schienenstrang zur Frankfurter Straße führen, wo die Tram in die Gleise der Vogelsbergbahn wieder einkoppeln könnte.

Dieser Abschnitt hätte eine Länge von 5,4 Kilometern und würde weitgehend auf dem Fahrweg der heutigen Stadtbuslinie 1 verlaufen. Die Kosten des Bahnprojekts schätzt Henschel auf 75 bis 90 Millionen Euro.

Grobplanung war Grundlage für Befragung von Experten in Gießen

Diese Grobplanung war Grundlage für eine Befragung von Experten, Vertretern der Stadtgesellschaft und aus der Stadtpolitik. Hentschel sprach mit den Stadtwerken, dem Büro Planersocietät, das für die Stadt Gießen den Nahverkehrs- und Verkehrsentwicklungsplan konzipiert, einem Vertreter der Verkehrsgesellschaft Kassel, wo es eine Straßenbahn gibt, einem Bahningenieur der THM, einem Vertreter der Gießener BID-Vereine, einer Pfarrerin, einem Mitglied des hauptamtlichen Magistrats und drei Fraktionsmitgliedern der Grünen, von Gigg/Volt und der AfD.

Weitere Fraktionen hätten auf seine Anfragen leider nur zögerlich oder gar nicht reagiert. Bei der Befragung ging es um ökologische, wirtschaftliche, regionalpolitische, finanzielle und soziale Aspekte eines solches Vorhabens. Hentschel zeigte sich selbst ein wenig überrascht, dass von 415 einzelnen Aussagen etwa zwei Drittel positiv waren.

Als bedeutsamste Gegenargumente seien von seinen Gesprächspartnern die hohen Bau- und Betriebskosten und die lange Bauzeit genannt worden. Realistisch wäre das Projekt nur im Fall einer hohen Bezuschussung. Dafür müsse der Nachweis geführt werden, das der volkswirtschaftliche Nutzen einer Regiotram die Kosten übersteigt.

Machbarkeitsstudie soll in Gießen forciert werden

In diesem Zusammenhang fordert Hentschel gegenüber der GAZ die amtierende Stadtkoalition auf, die vor über zwei Jahren von den Parteien vereinbarte Machbarkeitsstudie zu einer Regiotram zu forcieren. »Leider hat man davon lange nichts mehr gehört«, sagt Hentschel. Er verweist auf die Stadtgeschichte: »Gießens Historie zeigt, dass ein Schienensystem möglich und erfolgreich sein kann.«

Rückblende: Während heutzutage die E-Mobilität beschworen wird, aber nur schleppend vorankommt, verkehrte der Gießener ÖPNV bis in die 1960er Jahren hinein in weiten Teilen »elektrifiziert«, allerdings mit Strom aus Kohle. Die Stadt war durchzogen von einem Spinnengewebe aus Oberleitungen, an denen Straßenbahnen und Obusse hingen.

1909 mit zwei Linien in Gießen gestartet

Die 1909 mit zwei Linien gestartete elektrische Eisenbahn fuhr bis 1953 und wurde dann von den Oberleitungsbussen abgelöst, die wiederum dem Ausbau Gießens zur autogerechten Stadt zum Opfer fielen. Fortan trugen Omnibusse mit Verbrennungsmotor die komplette Last des innerstädtischen Nahverkehrs, ehe die Stadtwerke ab 2009 schrittweise auf Erdgasantrieb umstellten.

In Gießen weckt die Straßenbahn bislang nur wehmütige Erinnerungen an das alte Gießen, an dessen prächtigem Marktplatz sich die Linien kreuzten, die zwischen dem Bahnhof und Wieseck verkehrten. (Burkhard Möller)

Wie eine S-Bahn in der Stadt: Initiative forder Regiotram in Gießen.

Auch interessant

Kommentare