„Wer hier arbeitet, muss stressresistent sein“: Nachtschicht mit dem Kriminaldauerdienst in Gießen

Die Männer und Frauen des Kriminaldauerdienstes sind in der Regel die ersten am Tatort. Wir haben die Ermittler bei einer Nachtschicht in Gießen begleitet.
Gießen - Um 0.37 Uhr lenkt Marco Kießig sein Fahrzeug auf den Parkplatz eines Supermarktes im Kreisgebiet. Er lässt das Auto langsam über den Asphalt rollen, auch in die hintersten Ecken, wo sonst nur die Angestellten tagsüber in einer Pause eine Kippe rauchen. Der Wagen bleibt vor der Eingangstür stehen, die Scheinwerfer ins Innere des Ladens gerichtet. Die Scheiben sind noch intakt. Kießig nickt seiner jungen Kollegin im Kriminaldauerdienst, Victoria Wiegmann, zu und sagt: »Hier waren sie noch nicht.« Zufrieden ist der 51 Jahre alte Ermittler aber nicht. Denn die Mitarbeiter des Supermarktes haben keine Paletten oder Kisten in den Eingangsbereich des Marktes gestellt. Hätten sie dies gemacht, würden die Zigarettendiebe, die aktuell gezielt die Supermärkte der Region unsicher machen, sofort wieder das Weite suchen.
Kießig ist Dienstgruppenleiter beim Kriminaldauerdienst des Polizeipräsidiums Mittelhessen. Beim KDD handelt es sich um den Bereitschaftsdienst der Kripo. Die Ermittler arbeiten in fünf Dienstgruppen täglich rund um die Uhr im Schichtbetrieb. Im Rahmen einer Nachtschicht konnte diese Zeitung Kießig und seine Kollegen begleiten.
Kriminaldauerdienst in Gießen: Worum kümmert sich der KDD?
Es ist 19.58 Uhr, seit fast zwei Stunden läuft der Nachtdienst von Kießig, der Praktikantin Wiegmann, Teresa Nickel und Armin Keim. Am Vortag, erzählt Kießig, während des Tagdienstes, sei viel los gewesen. Sei ein Einsatz beendet gewesen, hätten die Zweierteams zum nächsten ausrücken müssen. Für die einen der pure Stress, für Kießig eine Herausforderung, der man sich stellt. Er sagt: »Wer hier arbeitet, muss stressresistent sein.«
Bisher ist es ein ruhiger Nachtdienst. Kießig nutzt die Zeit, um den Reporter durch die Räume zu führen. Es gibt ein Gemeinschaftsbüro, zwei Vernehmungszimmer, einen Gemeinschaftsraum mit - ganz wichtig - einer Kaffeemaschine, aber auch mit auf Schränken verstauten Matratzen. Auf denen können sich die Beamten ausruhen. Während des Rundgangs erzählt Kießig, worum sich der KDD kümmert.
Kurz gesagt: Um fast alles. Die Beamten sind die ersten, die an einem Tatort den sogenannten Auswertungsangriff vornehmen: Sie schätzen vor Ort die Lage ein, organisieren eventuell Unterstützung, sichern Spuren und nehmen Aussagen auf. Sie kümmern sich um Betrugsfälle, Einbrüche, Brände oder Delikte, in denen Waffen im Spiel sind. Straftaten im Betäubungsmittel-Bereich bearbeiten sie ebenso wie Vermisstenfälle, Raubüberfälle, Tötungsdelikte oder Leichenfunde.
Mit dem Kriminaldauerdienst in Gießen unterwegs: Ermittler erzählen von ihrer Arbeit
Auch bei Staatsschutzdelikten sind sie mit im Boot. Wenn es zu einer Amoktat kommt, ist der KDD Teil des Notinterventionsteams. »Wir nehmen Anzeigen auf und übernehmen die zivile Aufklärung und Observierungen«, sagt Kießig. Zur Weiterbearbeitung gibt der KDD die gesammelten Erkenntnisse an die jeweiligen Kommissariate weiter. Außerdem arbeiten die Polizisten mit der Gerichtsmedizin, der Staatsanwaltschaft, Rettungsdiensten, der Feuerwehr oder der Notfallseelsorge zusammen. Gerade die Ehrenamtlichen halten den Ermittlern den Rücken frei, kümmerten sich um Angehörige, damit die Beamten die Spuren sichern können.
Während Kießig von seiner Arbeit erzählt, steht eine ältere Dame am Empfang der Polizeistation Süd. Nickel geht mit ihr in ein Vernehmungszimmer. Nach einer Stunde kommt sie zurück. Die Frau wollte Anzeige erstatten wegen eines Sexualdelikts, das 1978 geschehen sei. Nur: Eine Vergewaltigung verjährt nach 20 Jahren. Kießig sagt, der Name des Beschuldigten und die Hintergründe der möglichen Tat würden trotzdem notiert und weitergegeben. »Falls der Mann, der von der Frau beschuldigt wird, wegen ähnlicher Straftaten woanders bekannt oder aufgefallen ist.«
Es ist 21.22 Uhr. Kießig schaut auf den Bildschirm seines Rechners, auf der aktuelle Einsatzlagen in Echtzeit zu sehen sind. Im Hintergrund knistert der Funk: Ein Streifenpolizist gibt durch, dass wegen eines Brandes in der Innenstadt alles geklärt sei. Kießig lehnt sich zurück. »Dann müssen wir nicht rausfahren.«
Kriminaldauerdienst in Gießen: Polizeikräfte sind breit ausgerüstet
Weil der KDD sich um eine so große Bandbreite an Delikten kümmert, ist das Team breit ausgerüstet. In einem Raum der Dienststelle findet sich alles, was ein Ermittler braucht. Hier gibt es die Waffenfächer der Polizisten, dazu ein Sturmgewehr. Es findet sich Material für die Spurensicherung wie ein Gips-Kit, mit dem man Fuß- oder Autospuren sichern kann, außerdem DNA-Stäbchen, Betäubungsmittel-Tests, ein Untersuchungskit für Sexualdelikte, das die Beamten Ärzten geben können. In den Schränken liegen Einweganzüge. Handschuhe, Helme und Schutzwesten.
Eines von Kießigs Lieblingseinsatzmitteln ist eine spezielle Tatortlampe, mit der Spuren schnell sichtbar gemacht werden können, die mit dem bloßen Auge nicht erkennbar wären. Die Polizisten können zum Beispiel mit einem Farbfilter Hautschuppen oder Spermaspuren finden - oder Fingerabdrücke oder Schweiß an einer Fensterscheibe. »Das erleichtert uns die Arbeit enorm«, sagt Kießig. Er betont: »Es gibt keinen Tatort ohne Spuren. Wir müssen sie nur finden. Und wenn wir keine Spuren sichern, wird das später vermutlich kein anderer mehr machen.«
Der 51 Jahre alte Ermittler sagt, er sei privat »Jäger, Sammler und Angler«. Seit 1988 ist er bei der Polizei. In Frankfurt war er Mitglied einer Spezialeinheit, später im dortigen KDD tätig. Vor 16 Jahren wechselte er nach Gießen; hier war er zwischenzeitlich im K 11, dem Kommissariat für Kapitaldelikte, aktiv. Aber ihm habe der Schichtdienst gefehlt, sagt er. Deshalb der Wechsel zurück zum KDD.
Gießener Kriminaldauerdienst: Beamte des KDD dürfen sich keine Nachlässigkeiten erlauben
Kießigs Ehefrau arbeitet ebenfalls im Schichtdienst - in einem Krankenhaus. »Bei uns ist es wichtig, dass die Familie mitzieht«, sagt er. Denn die Zwölf-Stunden-Dienste am Tag oder in der Nacht können auch mal länger werden.
Kießig erinnert sich an den tödlichen Streit um eine Drohne in Wettenberg vor zwei Jahren. Er und sein Team standen nach einem langen Tagdienst kurz vor dem Feierabend, als sie alarmiert wurden. »Wir waren bis um 20 Uhr am Tatort und haben dann die Ermittlungen ans K 11 übergeben.« Seinen längsten Dienst hatte Kießig von 6 bis 4 Uhr morgens. Da muss man viele Tassen Kaffee trinken.
Trotz der manchmal überwältigenden Müdigkeit dürfen sich die Beamten des KDD keine Nachlässigkeiten erlauben. Gerade bei Todesfällen. »Da dürfen wir nicht larifari handeln«, betont Kießig. In Gießen, sagt er, würden die Ermittler bei Leichenfunden genau hinschauen. Als Beispiel nennt er den Fall Riconelly. Tuba S. hatte versucht, den Mord an dem ehemals stadtbekannten Zauberer als Tod durch ein Feuer zu tarnen. Ein Kollege vom KDD, der zum Brandgeschehen dazugerufen wurde, sei bei der kriminalistischen Leichenschau skeptisch geworden. »Der Kollege sagte: ›Das gefällt mir nicht‹«, schildert Kießig. Dies war der Anfang vom Ende von Tuba S., der später noch zwei weitere Morde in Düsseldorf nachgewiesen wurden. In der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt hatten die Ermittler nicht genau hingeschaut. Erst die Gießener brachten die drei Fälle in Verbindung.
Mit dem Kriminaldauerdienst in Gießen unterwegs im Zivilfahrzeug
Es ist 23.57 Uhr. Kießig und Wiegmann machen das Zivilfahrzeug einsatzbereit. Sie wollen einige Supermärkte im Landkreis abfahren. Eine Bande ist aktuell unterwegs, schlägt die Eingangstüren der Geschäfte ein und stiehlt gezielt Zigaretten, um sie weiterzuverkaufen. Auch das gehört zur Arbeit des KDD: Rausfahren und nach dem Rechten sehen. Wobei Kießig betont, dass die Arbeit zu 70 Prozent im Innendienst stattfinde.
Kießig steuert das Fahrzeug zügig über die Landstraße. In der Nähe eines weiteren Supermarktes drosselt er um 1.04 Uhr die Geschwindigkeit und lässt das Auto vor den Markt rollen. Auf dem Parkplatz sind zwei einsame Autos abgestellt, aber niemand hält sich darin auf. Das Polizeiauto bleibt vor dem Eingang des Supermarkts stehen. Diesmal lächelt Kießig und zeigt auf die im Inneren aufgetürmten Getränkekisten und den Bauzaun, der den Eingang des Getränkemarktes sichert. »Sie sind kürzlich Opfer der Bande geworden. Sie haben dazugelernt.«
Als Kießig gegen 1.39 Uhr wieder zurück ins Polizeipräsidium fährt, will der Reporter wissen, ob solche Einsätze nicht wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen sei. Kießig nickt und sagt: »Klar. Aber von nichts kommt nichts.« (Kays Al-Khanak)