1. Gießener Allgemeine
  2. Gießen

»Mit deutscher Gründlichkeit«

Erstellt:

Von: Burkhard Möller

Kommentare

oli_gedenkdeportation2_1_4c
Kantor Eugen Medowoj trägt das Kaddisch vor. © Oliver Schepp

Gießen (mö). Ein ungewohnt kalter Wind fegt am späten Freitagnachmittag durch den Hof der Goetheschule und bewegt die Schwarz-Weiß-Fotografien, die an einer Betonsäule hängen, hin und her. Dann ist es kurz windstill und man schaut in das lächelnde Gesicht einer hübschen jungen Frau: Berta Hildegard Goldschmidt, geboren am 15. Januar 1927 in Gießen.

Wäre sie alt geworden, hätte sie in diesem Jahr ihren 95. Geburtstag gefeiert. Sie wurde aber nicht einmal 16. Ihr kurzes Leben endete vor 80 Jahren im Konzentrations- und Vernichtungslager Treblinka.

Berta Hildegard Goldschmidt, deren Familie fast komplett im Holocaust ausgelöscht wurde, gehörte zu 350 Juden aus Gießen und Umgebung, die Mitte September 1942 in der Goetheschule zusammengetrieben und am 16. September zunächst nach Darmstadt und anschließend weiter in die Vernichtungslager ins besetzte Polen verschleppt und ermordet wurden. Von einem »tiefdunklen Tag« in der Geschichte Gießens sprach Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher bei der Gedenkstunde in der Grundschule an der Westanlage.

Becher und Pfarrer Cornelius Mann, der für die Christlich-Jüdische Gesellschaft sprach, erinnerten daran, wie geschäftsmäßig und akribisch die nationalsozialistische Stadtführung damals die von der Geheimen Staatspolizei angeordnete »Judenaktion« vorbereitet hatte, bis hin zur Verpflichtung von Landwirten, Stroh als Schlafunterlage für die bereits entrechteten jüdischen Bürger in die Schule zu liefern. »Mit deutscher Gründlichkeit« seien die Organisatoren vorgegangen, sagte Mann. Von »Wohnsitzverlegung« und »Evakuierung« sei verharmlosend die Rede gewesen. »Als hätte man die jüdischen Menschen vor einer Naturkatastrophe in Sicherheit bringen müssen«, so Becher mit Blick in die Akten von damals. Das alles habe sich »am hellichten Tag« abgespielt, unter den Augen Tausender Zeugen und mit aktiver Unterstützung von Stadtverwaltung, Stadtwerken und Reichsbahn.

Von den 350 in der Goetheschule zusammengepferchten Juden kamen 150 aus Gießen und Wieseck, die anderen aus dem Kreisgebiet und angrenzenden Landkreisen. Viele der mehr als 1000 Gießener Juden, die zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtergreifung in der Stadt gelebt hätten, seien zuvor in deutsche Großstädte, das europäische Ausland, die USA und Palästina gegangen bzw. ausgewandert. Die Deportationen hätten nur 106 Personen überlebt, sagte Mann.

Schüler der Ricarda-Huch-Schule lasen aus den Lebensläufen jüdischer Kinder, exemplarisch dabei das Schicksal der Familie Goldschmidt, das die Oberstufenschüler Amelie und Aaron eindrucksvoll schilderten. Ihre Mitschülerin Liv sang unter Begleitung von Rolf Weinreich und Marco Weisbecker einen vertonten Text von Selma Meerbaum-Eisinger, ein Gebet sprach Cornelius Mann.

Mit dem Kaddisch, dem jüdischen Totengebet, vorgetragen von Kantor Eugen Medowoj von der jüdischen Gemeinde, ging die bewegende Gedenkstunde zu Ende.

Auch interessant

Kommentare